Stolpersteine Calvörder Heimatforscher auf den Spuren des jüdischen Lebens
Die Geschichte der einstigen jüdischen Gemeinde in Calvörde steht im Mittelpunkt der Forschungen von Reinhard Rücker. Auch 76 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz beobachtet er eine Zunahme antisemitischer Gewalttaten.
Calvörde - „Der erste jüdische Einwohner war Jacob Levin. Er kam 1752 aus dem damaligen Regierungsbezirk Posen. Er starb 1810 in Calvörde. In den folgenden Jahren erfolgte ein lebhafter Zuzug von jüdischen Familien aus ganz Deutschland nach Calvörde“, erzählt Dr. Reinhard Rücker. Schon lange vor seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Heimatvereins beschäftigte er sich mit dem Schicksal der jüdischen Familien. Der blühende Marktflecken war Sitz eines braunschweigischen Amtsgerichts. 1760 lebten in Calvörde bereits 67 Juden, weiß Rücker mit Blick auf historische Aufzeichnungen. In dieser Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs war es der jungen Gemeinde möglich, sich einen Betsaal in einem schlichten Fachwerkhaus einzurichten. Einmal im Monat kam der Rabbi aus Haldensleben, um den Gottesdienst abzuhalten. Die Eröffnung des Betsaals fand am 15. Februar 1781 statt. „Unterhalb der Treppe zum Obergeschoss der Synagoge befindet sich eine gemauerte Vertiefung“, beschreibt Rücker. Er vermutet, dass es sich um die zum Betsaal gehörende Mikwe (Ritualbad) handelt.
Ein weiteres Zeugnis aus der Vergangenheit ist der jüdische Friedhof, der etwa zwei Kilometer südlich von Calvörde am Waldrand liegt. Rücker denkt, dass ein Großteil der Calvörder nicht viel über das Schicksal der damaligen jüdischen Nachbarn weiß. „Vor und nach dem Krieg wollte man die Geschichte vergessen. Viele Grabsteine sind damals verloren gegangen“, weiß Rücker. Lediglich sieben Steine sind noch vorhanden. Zusammen mit Schülern der Arbeitsgemeinschaft „Junge Historiker“ der Calvörder Schule setzte sich Rücker für den Erhalt der Grabsteine ein. Vor etwa 40 Jahren wurden die Inschriften mit schwarzer Farbe nachgezogen, damit diese fotografiert werden konnten. „Die nun mögliche Übersetzung wurde von Monika Preuß vom Zentralarchiv vorgenommen“, erinnert sich der Heimatfreund. Die vollständigen Unterlagen darüber sind in der Heimatstube archiviert.
Areal des Friedhofs eingezäunt
Nach der politischen Wende 1989 wurde das Areal des Friedhofes eingezäunt. Seitdem finden mehrmals im Jahr Arbeitseinsätze einer Magdeburger Gartenbaufirma statt. Beides gehe auf die Initiative der Synagogengemeinde von Sachsen-Anhalt in Magdeburg zurück. In den letzten Jahren fanden mit Pfarrer Jürgen Dittrich und Calvördes Bürgermeister Volkmar Schliephake Gedenkveranstaltungen jeweils am 9. November, anlässlich der Reichspogromnacht 1938, statt.
1834 sollen nur noch 15 Juden in Calvörde gelebt haben. Grund dafür sei, dass es 1818 mit der Einführung eines neuen Steuersystems, dem Wegfall der Zollschranken 1834 und der Verlegung der Straßenverbindung Hamburg-Leipzig zu einem wirtschaftlichen Niedergang der Handelsleute kam.
„Aber Anfang des 20. Jahrhunderts lebten wieder jüdische Bürger in Calvörde“, erzählt Rücker. Es war die Familie Bloch, die ein Textilgeschäft am Markt führte. Sohn Werner, geboren 1920, besuchte in Calvörde die Volksschule und in Gardelegen das Gymnasium. Im Holocaust wurden seine Eltern und weitere Verwandte in einem Lager in Osteuropa ermordet. Werner Bloch konnte sich durch Flucht nach Holland zunächst der Gefangenschaft entziehen. Nach der Besetzung Hollands durch die deutsche Wehrmacht und der SS wurde auch er nach Deutschland verschleppt. „Theresienstadt, Auschwitz und Sachsenhausen waren seine Leidensstationen. Bloch hat den Holocaust überlebt. Nach 1989 hat er Calvörde einige Male besucht. Das Geschäft seiner Eltern wurde auf ihn zurückübertragen. Er konnte es verkaufen“, erzählt Rücker, der mit seiner Frau Erika zweimal Werner Bloch und dessen zweite Frau Ted in Amsterdam besuchte. Bloch habe damals berichtet, dass auch feindselige Calvörder die Scheiben des jüdischen Geschäftshauses eingeschlagen hatten.
In Amsterdam besucht
2006 besuchten auch Calvörder Konfirmanden mit Pfarrer Andreas Knauf den damals 86-jährigen Werner Bloch in Amsterdam. Er hatte seine Erlebnisse in einem kleinen Buch „Konfrontation mit dem Schicksal“ niedergeschrieben. Auf Initiative von Knauf wurde es mit dem Titel „Ein Calvörder Überlebender des Holocaust“ aus dem Holländischen übersetzt und 2010 gedruckt. Inzwischen ist Werner Bloch verstorben.
Am 12. September 2009 wurden auf Initiative von Knauf und im Rahmen des Kunst-Projekts „Stolpersteine“ von Gunter Demnig vor dem einstigen Wohnhaus der Blochs sechs dieser Steine zum Gedenken an die ermordeten Familienmitglieder gesetzt.
Der jetzige Eigentümer will das baufällige Gebäude abtragen und einen Neubau errichten. Die „Stolpersteine" sollen weiter mahnen und an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Rücker wünscht sich, dass kommende Generationen aus der Geschichte lernen, was es heißt, einander zu heilen und nicht zu verletzen, sich respektvoll und nicht voller Verachtung zu begegnen.