Fernsehserie Als der Sandmann noch schlief
Am 8. Oktober 1958 um 18.55 Uhr startete im DDR-TV die erste Gute-Nacht-Sendung im deutschen Fernsehen. Eine Erfolgsgeschichte begann.
Berlin l „Schnippel die schnappel die Scher, auf Meister Nadelöhr“. Am 23. November 1955 sang der 25-jährige Wernigeröder Eckart Friedrichson zum ersten Mal im DDR-Fernsehen als Meister Nadelöhr sein Auftrittslied. Die Rolle des Geschichtenerzählers und Moderators in seiner Schneiderstube im Märchenland war ihm tatsächlich auf den Leib geschneidert.
Derselbe Schauspieler war es auch, der drei Jahre später einer der ersten Protagonisten vom „Abendgruß“ im TV war. Gemeinsam mit seinem Freund von der Post – Meister Briefmarke (Heino Winkler): „Klicks, Klecks, Stempelbums“ – und Handpuppen wie Flax und Krümel – erzählte er Geschichten, um die Kinder vor den damals gerade mal 300.000 angemeldeten Fernsehgeräten in der DDR freundlich, aber bestimmt ins Bett zu schicken.
Die Geschichte des noch unbesandmannten Fernseh-Abendgrußes begann genau am 8. Oktober 1958. Seine Vorgeschichte (aber auch die spätere) ist untrennbar mit dem Namen Ilse Obrig verbunden. Die damals 20 Jahre alte Ilse Obrig begann 1928 beim Kinderfunk der Mitteldeutschen Rundfunk AG (MIRAG) in Leipzig. Dort zeichnete sie für die „Kinder- und Bastelstunde“ verantwortlich. Von 1945 bis 1949 war sie am Aufbau des Kinderfunks beim Berliner Rundfunk beteiligt. Die erste Radiosendung der promovierten Psychologin bei dieser Sendeanstalt war das „Abendlied“. Der Radio-Sandmann ging am 19. Mai 1956 auf Sendung – wenn man so will, der akustische Vorgänger des späteren TV-Spitzbarts.
In einer Zeit, als das neue Medium Fernsehen immer mehr nach vorne drängte, gab es erste Bestrebungen in Berlin-Adlershof, dem DDR-Fernsehzentrum, auf die guten Erfahrungen mit dem Rundfunk-Liebling aufzubauen. Im Frühjahr 1958 wurde deshalb überlegt, wie man das ohne größeren Aufwand und ohne ein völlig umgekrempeltes Konzept bewerkstelligen kann – also eine Art Radio-Sendung mit bewegten Bildern. Aber es sollte noch bis in den Frühsommer hinein dauern, dass Programmchef und Vize-Intendant Walter Heynowski das Vorhaben abnickte.
Konsens war, dass die Märchengestalten, die von allen Fernseh-Kindern über alles geliebt wurden, auch die Nachtruhe einläuten sollten. Ein Gute-Nacht-Lied, eine Geschichte von Meister Nadelöhr, Mini-Spiel-Szenen mit den Handpuppen Flax und Krümel, so sah es das Projekt „Ab ins Bett!“ vor.
Das Konzept trug Früchte. Dort, wo mahnende Worte von Eltern auf taube Ohren stießen, bewirkten die mehr oder weniger erzieherischen Gute–Nacht–Geschichten vom Geschwisterpaar Flax und Krümel sowie der ältlichen, aber lebensklugen Oma wahre Wunder. Der freche „Max“ als Negativbeispiel ließ den pädagogischen Zeigefinger noch mehr in die Höhe wachsen. Das Novum wurde sofort zum Quotenrenner im Ost-Fernsehen. Auch, wenn es diesen Begriff damals noch nicht gab. Eigentlich sollten die „Abendgrüße des Kinderfernsehens“ erst zu Silvester 1958 Premiere haben. Doch dann kam – wie nicht unüblich im Osten Deutschlands – die staatstragende Idee auf, den Startschuss bereits am 7. Oktober 1958, zum 19. Jahrestag der DDR-Gründung, zu geben.
Allgemeine Zustimmung: „Aber haben wir denn bis dahin schon genug Material?“, war die bange Frage. Denn einen Reinfall und dann noch an solch einem Tag wollte sich niemand ans Revers heften.
Das „Abendgruß“-Team produzierte mit Hochdruck und schaffte es tatsächlich, die kleinen Filme termingerecht abzuliefern. Doch die Adlershofer Fernsehmacher hatten bei ihrer Planung eines übersehen: Am „Tag der Republik“ war das Vorabendprogramm komplett ausgeplant – mit der Übertragung der Festveranstaltung. Aber einen Tag später sagte die Programmansagerin um 19.55 Uhr das neue Format an: „Nun ganz speziell für euch, liebe Kinder, die Abendgrüße des Kinderfernsehens“.
Doch damit war nur der erste Akt vom TV-begleiteten Zubettgehen mit einem 1:0-Punktsieg für die DDR-Fernsehmacher beendet. Der zweite sollte noch viel spannender werden. Und dabei spielte die bereits oben erwähnte Ilse Obrig erneut eine entscheidende Rolle. Denn sie hatte die Idee zu einer TV-Sandmann-Figur, die den Kindern das Schlafengehen versüßen sollte.
Obrig war inzwischen als Chefin des Kinderfunks zum Berliner „Feindsender“ SFB gewechselt. Gemeinsam mit der Puppengestalterin und Autorin Johanna Schüppel entwickelte sie eine einfache Sandmännchen-Handpuppe. Die Planung für die Sendung „Sandmännchens Gute-Nacht-Gruß an die Kinder“ war schon weit vorangeschritten. Bereits im Sommer war es beschlossene Sache gewesen, dass in der Adventszeit der Sender Freies Berlin seinen Sandmann auf die TV-Erde schicken sollte. Doch davon bekam Programmdirektor Heynowski im Ostteil der Stadt Wind.
Wie die Überlieferung besagt, machte DDR-Fernseh-Intendant Heinz Adamek Anfang November 1959 seinen Stellvertreter nicht besonders freundlich auf eine Programmvorschau des SFB für die 48. Kalenderwoche aufmerksam. Heynowski erfuhr so, dass der nur wenige Kilometer entfernte Westberliner Sender am 1. Dezember 1959 um 18.55 Uhr ein Sandmännchen auf die Mattscheibe bringen will. In der Ankündigung wurde besonders betont, dass damit der Wunsch vieler Eltern erfüllt wird.
Der Sandmann sollte als Klammer der fünf Minuten dienen: Er begrüßt die Kleinen und sagt am Schluss gute Nacht, hieß es in der Ankündigung, die so viel Staub beim DDR-Fernsehen aufwirbelte. Dazwischen werde es ein Schatten- oder Puppenspiel, eine Geschichte oder ein Abendlied geben.
Am 4. November 1958 unterschrieb Intendant Adamek das Sandmann-Konter-Konzept. Der Bühnen- und Kostümbildner Gerhard Behrendt bekam den Eilauftrag, mit aufwendiger Tricktechnik eine Sandmann-Figur aus dem Hut zu zaubern. „In zwei Wochen muss die Sache stehen“, lautete der Zeitplan. Mit im Boot saß Harald Serowski, der die Kulissen und zahlreiche Fahrzeuge baute. Am 22. November, eine Woche vor dem SFB-Sandmann, begrüßte der kleine Mann mit Spitzbart, Zipfelmütze und den charakteristischen Schuhen mit nach oben gebogenen Spitzen die Kinder.
Heute sind zwei Frauen beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) in Potsdam-Babelsberg für den Sandmann, dessen Gestalt seit 1959 nur einmal „ganz vorsichtig“ verändert wurde – um ihn gelenkiger zu machen – verantwortlich: Redakteurin Nina Paysen und Assistentin Martina Wünsch. Die Sendung, für die rbb und mdr die Rechte haben, hat den West-Sandmann schon 29 Jahre überlebt. Paysen: „Er hatte immer etwas von einem Kapitän, nichts Kindliches. Unser Sandmännchen sieht zwar aus, wie ein alter Mann, aber er verhält sich wie ein Kind“, beschreibt sie eine Seite des Erfolges. „Das Gesamtkonzept stimmt – die Fahrzeuge, die zeitlose Musik“, sagt Wünsch.
2019 wird der Sandmann „60“. Doch das ist wieder eine ganz neue Geschichte.