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Ukraine „Staatsbankrott ist vom Tisch“

Der neue Botschafter der Ukraine in Berlin, Andrij Melnyk, war in Magdeburg. Steffen Honig sprach mit ihm.

05.09.2015, 10:03

Volksstimme: Willkommen an der Wiege des Magdeburger Rechts! Ihr Präsident beruft sich darauf bei der angestrebten Verfassungsreform.

Andrij Melnyk: Richtig, das Magdeburger Stadtrecht ist in der Ukraine ein Begriff. Dieses Recht wurde 1235 eingeführt, 52 Jahre später war meine Heimatstadt Lwiw die erste ukrainische Stadt, in der es angewendet wurde. Bei der Dezentralisierung in der Ukraine knüpfen wir auch an diese jahrhundertelange Tradition an.

Die erste Beratung der Verfassungsreform im Parlament löste jedoch schwere Gewalt aus. Es gab mehrere Tote. Warum diese Zuspitzung?

Wir wollen den viel zu zentralistischen Staat reformieren. In der ersten Lesung stimmte das Parlament dem zu. Es gibt aber politischen Widerstand, weil wir uns bereiterklärt haben, den östlichen Gebieten Donezk und Luhansk einen Sonderstatus zu gewähren und dies sogar in die Verfassung aufzunehmen. Dadurch kam es zur bedauerlichen Gewalt vor dem Parlament. Für die Annahme der Verfassungsänderung ist eine Zweidrittelmehrheit nötig. Dafür fehlen noch Stimmen. Wir sind bereit, schmerzhafte Kompromisse für den Frieden einzugehen.

Der Rechte Sektor und andere Nationalisten boykottieren den Friedensprozess, die Radikale Partei zieht sich aus der Koalition zurück. Wird es Neuwahlen geben?

Nein, die Koalition ist im Parlament noch mehrheitsfähig. Wir werden aber am 25. Oktober Lokalwahlen haben. Da wird sich zeigen, inwieweit die Politik der Staatsführung von den Menschen mitgetragen wird.

Welche Rolle spielt der Rechte Sektor, in dem sich auch Neofaschisten sammeln?

Der Rechte Sektor ist ein Problem für den Staat. Er hat mehrere Tausend, davon leider auch gewaltbereite Mitglieder, die auf dem Maidan standen und dann freiwillig dem russischen Aggressor im Osten Paroli geboten haben. Die Regierung ist dabei, das freiwillige Bataillon in die Streitkräfte oder in die Nationalgarde vollkommen zu integrieren. Der Rechte Sektor hat kaum Rückhalt im Volk. Er darf trotzdem weder unterschätzt noch dämonisiert werden, denn in seinen Reihen sind auch viele Patrioten. Nachdem jedoch vor einigen Wochen in Mukatschewo im Westen der Ukraine durch diese Kräfte Auseinandersetzungen mit der Polizei angezettelt wurden, muss der Staat mit aller Macht einschreiten. Mukatschewo war ein Weckruf, der zweite Weckruf war die Gewalt vor dem Parlament.

„Zweifrontenkrieg wird es nicht geben.“

Wie groß ist nach diesen Ausschreitungen im Westen des Landes die Gefahr eines Zweifrontenkrieges für die Regierung?

Einen Zweifrontenkrieg wird es nicht geben. Die Gesellschaft leidet wegen des Krieges schon schwer genug. Ein Zweifrontenkrieg würde die Existenz der Ukraine gefährden. Deshalb wird die Vernunft siegen, auch bei denen, die radikal eingestellt sind.

Am 1. September wurde ein neuer Waffenstillstand in der Ostukraine ausgerufen. Wird er diesmal halten?

Wir tun alles, was wir können, um eine nachhaltige Waffenruhe zu erreichen. Die Ukraine hat mehr getan, als die Verpflichtungen von Minsk besagen. Deutschland ist ein wichtiger Partner der Ukraine, auch um Druck auf Russland in dem Ausmaß zu verstärken, das endlich all das einhalten muss, was es versprochen hat.

Was ist das konkret?

Vor allem muss humanitäre Hilfe für die Menschen in den besetzten Gebieten im Osten ermöglicht werden. Weiter betrifft das den freien Zugang der OSZE zu den Sammelplätzen schwerer Waffen, um deren Abzug zu verifizieren. Zudem muss Russlands Einfluss die Separatisten dazu bringen, den Lokalwahlen laut ukrainischem Recht zuzustimmen – so wie es im Minsker Abkommen steht. Endziel ist die Kontrolle der Grenze, die über Hunderte Kilometer weder von uns noch von der OSZE überwacht wird und wo Waffen und Söldner ununterbrochen eingeschleust werden. Das muss laut Minsk nach den Wahlen bis zum Ende des Jahres gewährleistet werden.

Die Ukraine wollte eine Mauer an der Grenze bauen. Dazu ist es nie gekommen. War das nicht eine Provokation für die Separatisten und Russland? Warum ist die Ukraine nicht selbstkritischer?

Ich denke, wir sind selbstkritisch genug. Es ging dabei um die Befestigung der Grenze, die bisher auf ganzer Länge, nicht nur in den Separatistengebieten, fast offen ist und daher gesichert werden muss. Denn wir sind de facto im Krieg mit Russland. Vielleicht war das Wort Mauer oder Wall – besonders für das deutsche Ohr – nicht sensibel genug.

Zum Thema Reformen: Sichtbares Zeichen einer Veränderung im Land ist die neue Polizei. Auf anderen Gebieten wie in der Wirtschaft geht es anscheinend kaum voran.

Doch, es geht sehr wohl voran, obgleich viele Ukrainer das Reformtempo beschleunigen wollen. Die Deregulierung der Wirtschaft kommt voran. Es gab beispielsweise eine Energie-Reform. Viele Oligarchen sind als Zwischenhändler zu Russland auf diesem Gebiet zu Geld gekommen. Heute sind die Verträge völlig transparent, wir kaufen jetzt mehr Gas in der EU als in Russland. Es gibt neue Gesetze zur Entbürokratisierung, um der Korruption den Nährboden zu entziehen. Zudem wurde ein Antikorruptionsbüro gebildet, das Bestechungsverdacht bis hinauf in die höchsten Ebenen nachgehen soll. Auch gibt es neue Gesetze zur Vergabe von Staatsaufträgen, damit diese nicht nach politischen Beziehungen ohne Wettbewerb erfolgt.

Präsident Petro Poroschenko hat versprochen die Macht der Oligarchen zu brechen? Wie weit ist er damit gekommen?

Wir sind auf einem guten Wege. Es gibt verschiedene Vorschläge, die bis zur Vernichtung des Oligarchentums durch Nationalisierung und Reprivatisierung des Eigentums gehen. Im Moment wird aber vor allem versucht, die Spielregeln zu ändern. Etwa bei Parteienfinanzierung, die nach deutschem Muster durch den Staat erfolgen soll, so dass die Abgeordneten nicht mehr von der Wirtschaft abhängig sind.

Die Ukraine hat bei privaten westlichen Gläubigern einen Schuldenerlass von 20 Prozent erreicht. Ist Ihr Land damit gegen einen Staatsbankrott gewappnet?

Diese Entscheidung gibt uns eine Verschnaufpause für die nächsten Jahre. Das Hilfsprogramm mit dem Internationalen Währungsfonds läuft weiter, der Staatsbankrott ist damit vom Tisch. Wir können uns dadurch voll und ganz auf die Reformagenda konzentrieren.

Es gibt in Sachsen-Anhalt und speziell in Magdeburg traditionell enge Verbindungen nach Donezk, die schwer aufrechtzuerhalten sind. Gibt es Hoffnung, dass hier eine Normalisierung eintritt?

Es freut mich, dass viele Fäden, die es vor dem Krieg gegeben hat, weiterbestehen. Wir wollen sie mit unseren Möglichkeiten verstärken. Der Krieg überschattet vieles, aber nicht alles.

„Krim-Frage bis Ende der Annexion offen.“

Wie groß ist die Chance, dass die Ukraine wieder ein geeintes Land im angestammten Territorium wird?

Wenn der Geist und Buchstabe von Minsk Schritt für Schritt umgesetzt werden würden, wäre es ganz einfach. Nach den Lokalwahlen, einer Verfassungsreform mit dem Sonderstatus für einzelne Gebiete in Donezk und Luhansk und der Schließung der Grenze nach Russland könnte schnell eine Verständigung erfolgen. Dann könnten wir schon im nächsten Jahr dort stehen, wo wir vor dem Krieg waren – ausgeklammert die Krim.

Ist die Krim somit verloren?

Nein. Russland ist zwar im Moment nicht bereit, über die Krim zu sprechen. Aber diese Frage wird solange offen bleiben, bis diese völkerrechtswidrige Annexion, die die Grundlagen der Weltordnung erschütterte, beendet wird. Wir haben Geduld. Und eines ist klar: Weder die Ukraine noch Europa werden die jetztige Lage anerkennen.