Buch-Reise Der Sehnsucht entgegen
Die B 96 ist die längste Bundesstraße in Ostdeutschland. Autor Marc Kayser ist sie abgefahren. Redakteur Lion Grote sprach mit ihm.
Herr Kayser, es gibt Straßen, die sind vielleicht landschaftlich reizvoller oder exotischer. Warum haben Sie sich auf Ihrer Reise für die B 96 entschieden?
Marc Kayser: Einspruch! Exotischer vielleicht, aber nicht landschaftlich reizvoller. Und für die geregelten und strukturierten Verhältnisse in Deutschland ist es zudem eine wilde Straße. Sie führt ja nicht nur quer durch Deutschland, sondern auch an vergammelten Sowjet-Panzern, geheimnisvollen Bunkern, stillgelegten Kohle-Flözen und pittoresken Kleinstädten vorbei. Man erlebt totale DDR-Authentizität und neuen Geist. In der Summe ist es eine enorm abwechslungsreiche und eben auch wilde Straße.
Wir nehmen Straßen ja eher als Verbindungen zwischen Orten wahr. Macht aber die Straße vielleicht auch etwas mit den Menschen, die an ihr wohnen?
Ja, und zwar nicht nur, weil die Menschen jeden Tag erleben, wie auf ihr Essen, Trinken, Waren, Güter und Baustoffe hin und her bewegt werden. Sie macht akustisch etwas mit den Menschen und sie sind sehr aufmerksam, was mit der Straße passiert. Man trifft sich auf ihr, verabredet sich, hält Händchen, entdeckt neue Holzkreuze von Todesopfern, beobachtet Krankenwagen. Die Straße ist die Verbindung zwischen vielen kleinen Orten und ihren Geschichten. Die Straße verbindet auch das Leben der Menschen. Und dadurch erfährt man auf und mit ihr eben viel über dieses Land.
Gibt es dadurch auch eine Art Gemeinsamkeit zwischen Menschen, die auf Rügen an der B 96 leben, und denen, die in der Lausitz entlang der Straße zu Hause sind?
Ich behaupte sogar, dass jeder auf dem Gebiet der DDR etwas mit dieser Straße zu tun hatte. Jeder wollte mal für den Sonnenuntergang nach Rügen, jeder an die Müritz zum Zelten oder alleine oder mit seiner Familie ein Abenteuer erleben. Dafür brauchte man die B 96 oder damals die F 96. Denn die führte genau an diese Orte der Sehnsüchte.
Und was hat diese Reise mit Ihnen gemacht?
Man lernt auf so einer Reise natürlich nicht nur wahnsinnig viel über sein eigenes Land, sondern auch über sich selbst. Es hat mich geduldiger gemacht. Ich habe gelernt anzuhalten und all das, was an dieser Straße passiert, auf mich wirken zu lassen. Außerdem habe ich festgestellt, wie sehr an dieser Straße Altes und Modernes aufeinander treffen. Dafür müsste man ihr eigentlich den Status eines Denkmals geben. Umso trauriger ist es, dass ihr immer wieder etwas geraubt wird. Zum Beispiel alte Haltestellen für sowjetische Sammeltaxis, die Marschrutkis. Die gab es vergangenes Jahr noch, sind nun aber unwiederbringlich verschwunden, weil sie einer Umgehungsstraße weichen mussten.
Was waren denn die Momente, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Das sind zwei Vorkommnisse. Einmal, wie ich mit 18 bei der Nationalen Volksarmee Dienst tat, mich fürchterlich langweilte und das Buch „On the road“ von Jack Karouac las, das meine Mutter mir mitgab. Er beschreibt darin, wie er auf der Suche nach dem ultimativen Kick einfach durch die USA fährt. Und ein bisschen hatte ich auf dieser Reise das Gefühl, im Geiste Jack Karouacs unterwegs zu sein. Das Zweite ist das Feeling dieser Straße. Die Stille genauso wie die Gespräche oder das Geräusch von vorbeifliegenden Störchen und Kranichen. Diese ganzen Sinneseindrücke.
Manche Abschnitte der B 96 sind jetzt etwa 80 Jahre alt. Was würden Sie dieser Straße für die Zukunft wünschen?
Dass man diese Straße noch weiter entschleunigt. Denn auf der B 96 sind manche Leute unterwegs, als wären sie auf der Flucht vor ihrer eigenen Gegenwart. Ich wünsche der Straße, dass man sie nicht so sehr mit Ampeln und Kreuzungen reglementiert, sondern das sein lässt, was sie ist: Eine Verbindungsschnur zwischen Menschen, ihren Lebensgeschichten und wunderschönen Regionen mit ganz unterschiedlichen Mentalitäten.
Das Buch "Große Freiheit Ost. Auf der B96 durch ein wildes Stück Deutschland" erschien im Verlag Bild und Heimat, 240 Seiten, zum Preis von 14,99 Euro.