Autorenduo Astrid Dehe und Achim Engstler Kluge Entdeckungen zwischen Kafka und Eichmann
Göttingen l Die beiden sind so unheimlich klug. Und sie weben ihre Gelehrtheit so kundig in ihre Texte, dass sie nur an ganz, ganz wenigen Stellen stört. Wir müssen uns vorstellen, dass Astrid Dehe und Achim Engstler, die viele Jahre Geisteswissenschaftler in Brotberufen waren, eigene Kinder erziehen und Fremde unterrichten, sich jahrelang vorbereitet haben. Nicht anders ist es zu erklären, dass sie seit 2011 in regelmäßigen Abständen Bücher vorlegen, die von Beginn an durch Idee und Komposition bestechen und rasant an literarischer Qualität gewinnen.
Man muss blitzgescheit sein, um auf die Idee zu kommen, dem Franz Kafka etwas Komisches abzugewinnen. Ihm, der sogar Halberstadt, als es 1912 am schönsten war, nur die Möglichkeit abringen konnte, "aus dem Vollen unglücklich zu sein". In "Kafkas komische Seiten" begegnen wir ihm, wie er in Jungborn bei Stapelburg einen Greis beobachtet, der nackt auf einer Wiese liegt und laut "prallt" (furzt). Eine merkwürdige Hülsenfrucht-Diät und Freikörperkultur, der Kafka sich nur zögerlich fügt, löst Konventionen auf. Kafka protokolliert: "Alte Herren, die nackt über Heuhaufen springen, gefallen mir nicht."
Das Autorenduo sammelt nicht einfach Anekdoten. Jede biographische Entdeckung unter dem Leitmotiv ist so kundig kommentiert und eingeordnet, dass das Buch allen zu empfehlen ist, die wissen wollen, wer denn dieser Mensch war, der eine eigene Literaturkategorie geschaffen hat. Zum Weiterlesen: "Kafkas dunkle Augen" - Reflexionen von Dehe/Engstler.
So klug sind die beiden, dass sie die wahre Geschichte von Tjark Evers entdeckt haben. Der junge Navigationsschüler lässt sich vor Weihnachten 1866 auf einer Sandbank im Watt absetzen, anstatt am Strand seiner Heimatinsel Baltrum. Im dortigen Heimatmuseum kann man die Zigarrenkiste mit den letzten Grüßen an seine Familie bestaunen. "Ich stehe hier auf einer Platt und muss ertrinken." Das ist die Ausgangssituation, wie sie Manfred Hausmann in seiner viel gedruckten Erzählung "Heute noch" als Fiktion konstruieren musste. Ein banaler Fehler führt dazu, dass ein Mensch seinen sicheren Tod vor Augen hat. Dehe/Engstler profitieren in "Auflaufend Wasser" von der tragischen Wucht, die die historische Verbürgtheit der Geschichte mitgibt, und es gelingt ihnen über weite Strecken, Tjarks Untergang, dem er selbst nur wenige Sätze widmet, in 113 Seiten spannende Literatur zu verwandeln.
Der Kunstgriff ist, dass sie Tjarks Schicksal weiter fassen. Sie schaffen nebenbei ein berührendes kulturgeschichtliches Panorama der Inselbewohner, deren Leben davon geprägt ist, dass das Meer ihnen geliebte Menschen und Besitz raubt. Und sie gehen sehr klug mit Tjarks Geheimnis, seinem angedeuteten Selbstmord, um - sie klären es nicht auf.
Ein Jahr später das nächste kluge Buch. Im vergangenen Jahr haben sie mit "Nagars Nacht" ihren ersten Roman vorgelegt. Er dreht sich um den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, und sie zeigen darin alles, was ihr bisheriges Werk schon auszeichnet. Das Gespür für die Story: Der einfache Wachmann Moshe Nagar, der zufällig ausgewählt wird, um Eichmann zu erhängen. Eine historische Figur. Die wunderbar einfache Konstruktion der Erzählung aus drei Kapiteln und drei Protagonisten: Ein alter Mann, der sein kompliziertes persönliches Verhältnis zu Eichmann aufklären will, befragt den phantasierend berichtenden Nagar. Und der Leser ist in Gestalt des pragmatischen Juden auch dabei. Dem Nagar wird Eichmann zum Dämon, dem Intellektuellen zur Obsession. Die Botschaft: Die Untaten eines Eichmann können nicht als "Banalität des Bösen" exorziert werden, sondern behalten ungeheure Ausstrahlung über Generationen.
Im Herbst erscheint der nächste Roman. Alles noch geheim. Nur so viel: Im Mittelpunkt steht ein uraltes Manuskript, das den Menschen seit Jahrhunderten Rätsel aufgibt.
Empfehlung: Den Kafka zum Stöbern, "Auflaufend Wasser" im Winter an der See lesen, "Nagars Nacht" für die geschichtlich Interessierten.