Jugendwerkhof Mahnung für zukünftige Generationen
Im Juni findet das nächste Treffen von ehemaligen Insassen des Jugendwerkhofes Burg statt. Die Betroffenen wollen reden.
Burg/Leipzig/Kehnert l Wie ist es um die Aufarbeitung der DDR-Heimerziehung, die Rehabilitation und Entschädigung von früheren Insassen in Jugendwerkhöfen bestellt? Darum geht es am 30. März ab 18 Uhr in einer Diskussionsrunde in der Magdeburger Gedenkstätte Moritzplatz.
Mit dabei sein wird Volkmar Jenig. Der Leipziger saß Ende der 60er Jahre 18 Monate im größten Jugendwerkhof der DDR, in Burg, ein. Seit 2015 hat er die Organisation von Ehemaligen-Treffen in Burg übernommen. Sie finden jeweils im Frühsommer auf Gut Lüben statt, das nächste am 3. Juni.
Jenig wie etliche seiner Schicksalsgenossen sehen es zunehmend als ihre Pflicht an, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. „Es geht nicht um Rache, es liegt uns am Herzen, dass sich solche Sachen nicht wiederholen. Es soll zugleich Mahnung für die zukünftige Generation sein“, sagt er.
Volkmar Jenig hat seine Erinnerungen an seine Jugendwerkhofzeiten inzwischen aufgeschrieben. Er stemmt sich damit auch gegen eine Stigmatisierung. „Die Bereitschaft der Gesellschaft, den Opfern von damals helfend zur Seite zu stehen, werden eher Hemmnisse in den Weg gelegt“, schätzt er ein. „Soll so eine Aufarbeitung erfolgen? Das wohl eher nicht, da kommt man eher zu dem Ergebnis: Einmal Opfer - immer Opfer.“
In Volkmar Jenigs Erinnerungen, die demnächst als Buch erscheinen, soll nach seinen Worten „jedoch deutlich auch aufgezeigt werden, dass Ärzte, die ,Götter in Weiß‘, die Entscheidung trafen, wo ein achtjähriger Junge seine Zukunft verbringen sollte und auch musste“. Die sei eine gewünschte, ja „willkommene Entscheidung im Sinne der Jugendhilfe, die diese Feststellung als Begründung ihrer Anträge nutzte, um das Kind in die Maschinerie der Zwangsumerziehungseinrichtungen einzugliedern“. Im Zeitraum von 1962 bis 1970 musste Jenig „die ,Pädagogik‘ der ,Erzieher‘ über sich ergehen lassen. Noch heute spüre ich die Folgen von damals“.
Der Jugendwerkhof Burg „August Bebel“ war der größte seiner Art in der DDR. Hier waren ständig knapp 300 Jugendliche untergebracht und erlebten oft schlimme Zeiten. Er existierte von 1949 bis 1989. Auf Teilen des Geländes sind heute das Corneliuswerk und die evangelische Grundschule untergebracht. 1989 gab es 31 Jugendwerkhöfe mit 3336 Plätzen, von denen 2607 belegt waren.
Wie Jenig schreiben sich auch andere Jugendwerkhof-Insassen ihr Leben geradezu von der Seele - als Therapieversuch und gegen das Vergessen. Lutz Adler zum Beispiel. In seinem Buch „Abgestempelt - Abartig“ schildert er sein Erlebtes im Spezialkinderheim in Kehnert, in der Zeit Ende der 60-ziger, Anfang der 70-ziger Jahre. Bis 1968 war es eine Außenstelle vom Jugendwerkhof „August Bebel“ in Burg. Das Buch ist bei Lutz Adler direkt erhältlich (lutz.adler54@gmail.com).
„Ich war vom Gelesenen erschüttert, dachte nicht, dass es noch andere Kinder gab, die gleiches erlebten wie ich“, war Jenigs erste Reaktion auf Adlers Buch. „Der einzige Unterschied bestand in den Orten, wo es geschah.“ Mehr als zwei Jahre verbrachte Lutz Adler in dem Spezialkinderheim: Die Folge heute: Erwerbsunfähigkeit und somit Rentner als Folge des Erlebten.
So geht es vielen ehemaligen Heimkindern. Auch Jenigs Buch wird Erschütterndes zutage bringen.
Als viertes von sechs Kindern wird er 1954 geboren. Der Vater ist ein Schläger. Jenig ist sieben Jahre alt, als er aus seiner Familie „genommen“ wird. Erst ist er länger krank, dann entscheiden Ärzte und Jugendhilfe, dass er nicht zurückkehren soll. Er kommt in Heime, nach Meißen, nach Hainewalde, nach Plau am See.
Mit zwölf Jahren ist der Junge noch Bettnässer. Die Zustände sind so schlimm, dass er wiederholt flieht, um nach Hause zu kommen. Geschnappt, wird es noch schlimmer.
Er schildert von sexuellem Missbrauch in einem Heim in Mecklenburg. Wochenlang vergeht sich ein Erzieher an ihm. Jenig schweigt - aus Angst. Als er erneut flieht, wird ihm verwehrt, dass er seine Lehrausbildung zum Maler antreten kann.
Stattdessen kommt er am 15. August 1968 nach Burg in den Jugendwerkhof. Jenig arbeitet hier in der LPG. Als Einzelgänger wird er oft von seinen Alters- und Leidensgefährten drangsaliert. Er spielt Fußball, ist in der Fanfarengruppe. Auch in Burg lernt er zur Genüge den Arrest kennen.
Jenig erlebt hier auch seine erste große Liebe und den ersten Kuss mit einem Mädchen. Am 28. Februar 1970 wird er aus dem Jugendwerkhof entlassen. „Burg war meine sechste Station durch Heime, Durchgangslager und Jugendwerkhöfe, danach kam die politische Haft“, erzählt er. 18 Jahre bis 1987 saß er nach seiner Jugendwerkshofzeit im Gefängnis, weil er gegen den Staat war.
Die Heimkinderthematik ist kein rein ostdeutsches oder DDR-Problem. Zwei Fonds sollen sich um die Folgen von Betroffenen in Ost und West kümmern. Für die Westländer der Bundesrepublik gibt es eine Einrichtung, die sich um geschätzt 700- bis 800 000 Betroffene aus westdeutschen Heimen in den Jahren 1949 bis Mitte der 1970er Jahre kümmert. Ein Fonds zur DDR-Heimerziehung von 1949 bis 1990 wurde 2012 aufgelegt, der den ebenfalls mehrere hunderttausend Opfern, helfen soll. Beide Fonds sind bereits geschlossen.
Über den DDR-Heimkinderfonds konnten Betroffene bis September 2014 Entschädigungen beantragen. Es konnten bis zu 10 000 Euro gezahlt werden. Opfer beklagen bürokratische Hürden bei der Antragstellung und viel zu geringe Hilfen angesichts der lebenslangen Folgen der Heimaufenthalte.
Nach dem Treffen im vorigen Jahr wollen ehemalige Insassen weit stärker als bisher in die Öffentlichkeit gehen, erläutert Volkmar Jenig. Dazu diente auch ein Treffen mit Birgit Neumann-Becker, die Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Es gibt eine Reihe von Angeboten und Ansätzen:
• Am 3. Juni findet das nächste Ehemaligen-Treffen auf Gut Lüben statt.
• Seit vorigem Jahr gibt es eine Internetseite http://www.jugendwerkhof-burg.de. Sie wird betreut von Ehemaligen Insassen in Burg. Hier können auch Interessierte, mehr zum Schicksal der damals hier Einsitzenden erfahren und wie es um ihre Rehabilitation und die die Aufarbeitung der DDR-Heim- und Jugendwerkhof-Geschichte bestellt ist.
• Noch bis 24. Februar ist in der Genthiner Stadt- und Kreisbibliothek die Ausstellung „Vergangenheit bewältigen“ zu sehen. Sie ist das Projekt von vier ehemaligen Jugendwerkhof-Insassen: Brigitte Matthias, Ramona Seibicke, Torsten Ehms und Thomas Senft sind in vier unterschiedlichen Jahrzehnten geboren. Mit ihren Bildern verarbeiten sie die Vergangenheit und geben gleichzeitig einen Einblick in diese.
• Aktuell gibt es drei spannende Wanderausstellungen zum Thema DDR-Heimzerziehung, die über die Gedenkstätte des früheren Jugendwerkhofes Torgau bezogen werden können (http://www.jugendwerkhof-torgau.de/).
„Ziel: Umerziehung!“: Auf zwölf Tafeln und zwei Medienstationen führt die mobile Ausstellung in das System und den Alltag von DDR-Heimerziehung anhand von fünf Einzelschicksalen ein. Was war eigentlich ein Jugendwerkhof und wer wurde eingewiesen? Welche Bedingungen herrschten z.B. in den Durchgangsheimen für aufgegriffene Kinder und Jugendliche? Auch schlägt die Ausstellung einen Bogen zu der Frage, wie sich repressive Heimerziehung auf das Leben von Betroffenen auswirkte und wie geschehenes Unrecht in der Bundesrepublik aufgearbeitet wird.
„Die Jugend der anderen“: Die Wanderausstellung umfasst einzigartige Fotodokumente aus dem Jugendwerkhof Crimmitschau 1982/83 und Protokolle der Erinnerung dort „umerzogener“ Mädchen. Für ihre Diplomarbeit an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst bekam Christiane Eisler 1982/83 die Genehmigung im Jugendwerkhof Crimmitschau zu fotografieren. Dreißig Jahre später wurden ehemalige Bewohnerinnen der Einrichtung in Crimmitschau ausfindig gemacht und erneut von Christiane Eisler fotografiert.
„Auf Biegen und Brechen“: Auf 13 Rollups informiert die Ausstellung über die Geschichte des Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau. Während seines Bestehens vom 1. Mai 1964 bis zum 11. November 1989 wurden über 4000 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren zur „Anbahnung eines Umerziehungsprozesses“ eingewiesen.
• Offen, aber in Arbeit sind in Burg noch die Einrichtung einer Gedenkstätte zum Jugendwerkhof und das Anbringen von Erinnerungstafeln
Wenn sich am 3. Juni ab 10 Uhr wieder Ehemalige auf dem Jugendwerkhof-Gelände in Burg treffen, hoffen sie erneut, dass sich Menschen aus dem Jerichower Land zu ihnen gesellen, die wissen wollen, was sie hier erlebt haben.
Voriges Jahr gab es vielversprechende erste Kontaktaufnahmen. Für viele der Frauen und Männer, die hier als Kinder und Jugendliche einmal einsaßen, ist Burg ein Ort schlimmer Erinnerung, aber auch ein Platz, an dem sie schöne Zeiten erlebt oder Menschen kennengelernt haben, die sich um sie gekümmert haben.
Aber in der Summe steht für viele von ihnen fest: „Eigentlich müssten jene zahlen, die uns das alles angetan haben.“