Lebensläufe Im Zirkus einen Traum erfüllt
Lucas Sellin aus Osterburg wollte immer nur zum Zirkus. Jetzt geht er in seinem Traumberuf Eventmanager in einem solchen auf.
Osterburg l Lucas Sellin war immer etwas Besonderes, obwohl er es selbst nie so gesehen hat. Doch wer – wie er – am Tag des Mauerfalls, am 9. November 1989, geboren wurde, den umgibt etwas Wunderbares. So sehen es nicht nur seine Eltern. Die Welt der Magie und des Herumreisens zog ihn einfach an. Noch ein „Immer“: „Ich war immer zirkusbekloppt“, bemerkt er grinsend. Wenn ein kleiner Zirkus in die Biesestadt kam, war er schon aus dem Häuschen, doch als er 2002 Zirkus Probst erlebte, gab es kein Halten mehr. Nachdem er dort keinen Tag ohne einen Besuch verstreichen ließ, verbrachte er im Sommer 2005 gleich zwei Wochen bei Familie Probst.
Im Zaubern und Jonglieren hatte sich der Osterburger bereits auf Familienfeiern geübt, aber ihm ging es um mehr. Er wollte echte Zirkusluft schnuppern. „Das Reiseleben hat mich gereizt“, gab er zu, „mir war von Anfang an klar, dass die romantisierte Vorstellung vom Reiseleben ein Mythos ist. Es ist in erster Linie Arbeit.“ Bis 2007 verbrachte Lucas Sellin alle Schulferien mit Arbeit beim Zirkus. Nach dem Abitur 2008 ließ er sich zum Veranstaltungskaufmann ausbilden. Von 2011 bis 2014 war er bei einem Pharmakonzern in Bad Homburg beschäftigt und als Projektmanager unter anderem auf Ärztekongressen und Fortbildungen anzutreffen.
Der Zirkus ließ ihn jedoch nicht los. „Wenn ich frei hatte, habe ich mir alles angeguckt“, erzählt der heute 27-Jährige begeistert. Übrigens: In Deutschland gibt es schätzungsweise 400 Zirkusse. Das erste Mal erlebte er Flic Flac 2010. Mehr Show als ein typischer Zirkus, war sein Resümee. 40 Artisten zeigen, was sie drauf haben. Und wie!
Im Juni 2013 kam dann die berufliche Wende. Der aus Borken/Nordrhein-Westfalen stammende Zirkus suchte in Frankfurt/Main Leute für den Einlass. Schließlich fragte man Lucas Sellin, ob er sich auch vorstellen könnte, in der Gastronomie zu arbeiten. Er konnte. Verbrachte die Wochenenden und den Urlaub bei Flic Flac. Jede freie Minute.
Seit fast zweieinhalb Jahren geht der Zirkus mit dem Programm „25 Jahre Höchststrafe“ auf Tour. In Berlin setzt das Unternehmen den Schlussakkord unter eine erfolgreiche Tournee: Die Show spielt in einer Strafvollzugsanstalt, Einlassmusik ist Rammstein, es wird mit Helene-Fischer-Konzerten gedroht bei Missachtung der Regeln. Spätestens nach dieser Ansage weiß das Publikum, dass Flic Flac anders ist als alles, was es bisher gesehen hat. Zirkus, in dem sich auch Erwachsene wohlfühlen. Es gibt keine Tiere. Und viele Artisten schocken und begeistern gleichzeitig mit waghalsigen Nummern, sind Hochleistungssportler. Eine Rockröhre gibt mit ihrer Band „Altacraz“ den Ton an. Mit den elf Motorrädern in einer Metallkugeln hat Flic Flac es am 1. Dezember vor Ende des Jahres noch ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft. Knapp 100 Leute sind an dem ganzen Drum und Dran beteiligt. Aus Argentinien, Russland, Frankreich, Venezuela, der Ukraine kommen die Artisten.
Über Weihnachten ist der Zirkus neben Berlin in Kassel, Nürnberg, Bielefeld, Mönchengladbach und Dortmund vertreten. Bis Mitte Februar steht Flic Flac noch in Berlin. Danach wird eine komplett neue Show konzipiert, die dann wieder durch größere Städte in Deutschland tourt.
„Die Show komplett gesehen habe ich schon länger nicht, aber ich gucke immer mal rein“, verrät Lucas Sellin. Das Jonglieren überlässt er inzwischen anderen.
Er jongliert inzwischen mit Zahlen: Sein Revier ist die Organisation. Buchhaltung, Personalplanung, Gruppenbuchungen, Einkäufe, Bestellungen – fällt alles in seinen Aufgabenbereich. Derzeit ist er mit Büro und Gastronomie gleich doppelt gefragt. Über Weihnachten nach Hause, das kam für ihn nicht in Frage. Die Flic-Flac-Leute hatten nur einen Tag frei, den sie mit Gänsebraten feierten, Heiligabend. Statt dessen: Die Eltern kamen vorher mal und sahen sich die Show an.
Lucas Sellin ist an ein Leben im Wohnwagen gewöhnt. Wohnraum auf 18 Quadratmetern, den er sich mit seinem Partner Alexander Göhring, der gleichzeitig technischer Assistent bei Flic Flac ist, teilt. Ein kleiner künstlicher Weihnachtsbaum zauberte während der Feiertage heimelige Atmosphäre in den gemeinsamen Wohnwagen. „Ich habe nicht vor, in absehbarer Zeit mein unstetes Leben aufzugeben“, bemerkt er lakonisch. Momentan passt einfach alles zusammen.
Die Arbeit, das Leben, und auch privat stehen 2017 einige Änderungen an. Vormittags bis in den frühen Nachmittag will alles Bürotechnische erledigt sein. Abends geht es um die Gastronomie, Personaleinteilung, Aufbau. Der 27-Jährige ist sich nicht zu schade, als Popcornverkäufer einzuspringen. Gegen 23 Uhr ist Feierabend. Er hat wenig Zeit, sich die Städte anzugucken. Nicht schlimm. „Wenn ich frei habe, genieße ich die Ruhe“, sagt er. „Alles, was ich hab’, hab’ ich auf Reisen“, bemerkt Lucas Sellin zufrieden, „ich bin hier glücklich und genau da, wo immer sein wollte.“ Wenn Lucas über sein Leben und seine Arbeit spricht, möchte man wieder an den Mythos der Romantik im Zirkus glauben. Es scheint, als sei das Leben für Lucas Sellin bei Flic Flac definitiv keine „Höchststrafe“.