Vortrag Tod soll kein Tabu sein
Professorin Annelie Keil erklärte in einem Vortrag an der Stendaler Hochschule, warum Tod und Gebrechlichkeit kein Tabu sein sollte.
Stendal l Annelie Keil trägt eine leuchtend grüne Strickjacke und knallroten Lippenstift. Ein Farbklecks, den man bei einer Veranstaltung, zu der der Ambulante Hospizdienst Stendal geladen hat, nicht unbedingt erwartet. Keil ist emeritierte Professorin der Gesundheits- und Sozialwissenschaften der Universität Bremen. Gerade lehrt sie dort den Umgang mit schwerkranken und sterbenden Menschen im Rahmen ihres selbstgegründeten berufsbegleitenden Studiengangs „Palliative Care“.
Und auch ihr öffentlicher Vortrag „Auf brüchigem Boden Land gewinnen – bis zuletzt. Zwischen Geburt und Tod, Gesundheit und Krankheit, Lust und Angst erfinden wir unsere Biografie“ an der Hochschule Stendal-Magdeburg beschäftigt sich mit dem Sterben.
„Das Leben ist letztlich immer ein unsicheres Leben. Wir kommen ungefragt zur Welt. Weder Zeitpunkt, Land noch Familie können wir wählen. Vieles im Leben ist vom Rahmen entschieden. Danach muss man alles selber machen“, beschreibt Keil die Philosophie hinter ihrem Vortrag.
„Unsere Gesellschaft tabuisiert den Tod und die Gebrechlichkeit, das Schwache. Das geht einher mit dem Aufstieg der Medizin und der Allmachtsfantasie, Krankheiten abzuschaffen und so den Tod zu besiegen“, erklärt sie.
Auch Ulrich Paulsen, evangelischer Pfarrer und Leiter des Stendaler Hospizes, weiß von diesem Tabu. „Es ist aber besser geworden. Ich mache seit 19 Jahren Hospizarbeit. Die Menschen sind jetzt offener und stellen auch Fragen zur Trauer und zum Tod. Gleichzeitg nehmen viele das Hospiz nicht als Option für sich an – man will ja gesund leben.“ Er sieht aber auch, dass es vielen Menschen hilft, dem Tod oder der Trauer mit ein paar Informationen entgegenzutreten.
Darum setzt sich Paulsen auch für solche Veranstaltungen ein, in denen aufgeklärt wird. Neben dem Vortrag von Annelie Keil gibt es für die Gäste auch die Möglichkeit, der eigenen Trauer, dem eigenen Verlust in einem Trauerlabyrinth entgegenzutreten. Ein Stein wird zu Beginn aufgenommen, dann langsam das Labyrinth durchschritten, und in der Mitte angekommen, kann man sich entscheiden: Lasse ich los oder halte ich daran fest? Richtig oder falsch, das gibt es nicht. Wenn man loslässt, kann man den Stein gegen ein Samenkorn eintauschen – ein symbolischer Neuanfang, bei dem die Last zurückgelassen wird.
Das kann helfen, aber man kann Sterben nicht lernen, findet Paulsen, egal wie viele Informationen man angesammelt hat. „Jeder Weg ist anders, jedes Leben ist anders.“ Genau hier setzt Keils Vortrag wieder an. „Früher durften junge Frauen keine Herzinfarkte bekommen. Ich hatte aber einen. Krankheitsverläufe sind nie gleich. Sie entziehen sich den medizinischen Statistiken.“
Darum gilt es, laut Keil, dem allgemeinen Gesundheitswahn endlich zu entkommen, denn „der Mensch kommt als gebrechliches Wesen zu Welt“.
Es ist okay, schwach zu sein und Hilfe zu brauchen – auch in einer Welt, in der Gesundheit als größtes Gut gesehen wird. „Fit im Alter, soll ich etwa mit einen Kopfsprung in meinen Sarg?“, fragt Keil. Das Publikum lacht. Vielleicht fängt hier auch schon der Bruch des Tabus an: Auch einem ernsten Thema wie diesem mal mit trotzigem Humor zu begegnen.