Volksstimme-Interview mit dem Hydrogeologen Dr. Manfred Sichting zum Grundwasserproblem in der Region Schönebeck, Barby und Calbe Jetzt keine Insellösungen initiieren
Dr. Manfred Sichting ist Hydrogeologe und ein ausgewiesener Experte. Der Schönebecker engagiert sich und agiert seit Monaten. Mit seinem Fachwissen schließt er Wissenslücken. Volksstimme-Redakteur Olaf Koch sprach mit Dr. Manfred Sichting über die Ursachen und Probleme der hohen Grundwasserstände in der Region Schönebeck.
Volksstimme: Während Oberbürgermeister Hans-Jürgen Haase die Ursachenanalyse auf die Stadt Schönebeck begrenzen will, wollen Barby und Calbe mit ins Boot. Ist dieses Ansinnen gerechtfertigt?
Dr. Manfred Sichting: Wasser macht nicht an politischen Grenzen halt. Zu der Region Schönebeck, Barby und Calbe besteht ein großräumiges unterirdisches Grundwassereinzugsgebiet, das äußerst komplexe geohydraulische Zusammenhänge und Wechselwirkungen zeigt. Es bestehen instationäre Strömungsverhältnisse. Dies ist hinsichtlich der Darstellung von Lösungen zu beachten. Von daher ist es nicht angebracht, räumlich isolierte Insellösungen zu initiieren.
Volksstimme: Woher kommen die enormen Wassermengen, die im Untergrund von Schönebeck gespeichert sind?
Dr. Sichting: Dies hat mehrere Ursachen. Für die Niederschläge in unserer Region bestehen bei sandig-kiesigen Böden sehr gute Versickerungsmöglichkeiten. Auch durch Elbe und Saale wird das Grundwasser gespeist.
"1000 Liter speisen unser Grundwasser pro Sekunde"
Volksstimme: Liegen Ihnen Zahlen dazu vor?
Dr. Sichting: In das zu Schönebeck gehörige Grundwassereinzugsgebiet versickern und infiltrieren durchschnittlich 1000 Liter Wasser pro Sekunde.
Volksstimme: Welche Ursachen sind für den hohen Grundwasserstand noch entscheidend?
Dr. Sichting: Mit der Elbe strömen rund 1000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch das Elbtal, bei Hochwasser sogar bis zu 3500 Kubikmeter. Die Folge ist, dass bei Hochwasser Grundwasser und Gräben nicht entwässern können. Dieses führt zu Grundwasseranstieg und Rückstau.
Volksstimme: Aus diesem Grund sind der Hochwasserschutz und eine großräumige Grundwasserabsenkung ein vordringliches Thema. Was gehört ihrer Meinung dazu?
Dr. Sichting: Neben Deichbauten an Elbe und Saale sowie das Pretziener Wehr gehört ein funktionierendes Entwässerungssystem mit dem Solgraben, dem Randelgraben, dem Landgraben und anderen Gräben dazu. Auch Schöpfwerke sind zur Grabenentwässerung dringend erforderlich.
Volksstimme: Bis zum Zusammenbruch der DDR wurde der Grundwasserspiegel künstlich gesenkt, weil erhebliche Mengen Grundwasser aus dem Boden gezogen wurde. Gibt es Zahlen aus dieser Zeit?
Dr. Sichting: Ja. Zur Trinkwassergewinnung gab es Wasserwerke in Felgeleben, Zackmünde und Barby. Zudem wurde industrielles Brauchwasser für unter anderem Traktoren- und das Gelatinewerk benötigt. Das zusammen waren bis zum Jahr 1989 täglich 40 000 Kubikmeter, bis zur Abschaltung der Wasserwerke im Jahr 1993 pro Tag immer noch mehr als 25000 Kubikmeter.
Volksstimme: Die Folge war und ist der bekannte Grundwasseranstieg?
Dr. Sichting: Richtig. Das Ende der Wasserentnahme führte allein im Raum Felgeleben und Sachsenland zu einem großräumigen Grundwasseranstieg von rund einem halben Meter auf Dauer.
Volksstimme: Waren diese Auswirkungen damals im Jahr 1993 nicht bekannt?
Dr. Sichting: Die Entwicklung war meiner Ansicht nach bereits ohne spezielle Kenntnisse und Gutachten anhand vorhandener Hydrogeologischen Kartenwerke erkennbar, da ein deutlicher Absenkungstrichter ausgebildet war, der die Wohnbebauung unterwandert hatte.
Volksstimme: Wie war die rechtliche Lage?
Dr. Sichting: Es bestand ein Recht zur Entnahme von Grundwasser. Damit verbundene Grundwasserstandsänderungen wie Absenkung oder Aufstau waren jedoch wasserbehördlich nicht genehmigt.
Volksstimme: Ein Kämpfer an der vordersten Front war der verstorbene Stadtrat Horst Melcher. Er setzte sich über Jahre für die Ertüchtigung des Grabensystems der Region ein. Berechtigt?
Dr. Sichting: Er kannte die örtlichen Verhältnisse bestens. Gräben wurden in der Vergangenheit leider immer wieder verfüllt beziehungsweise verrohrt. Zum Bau von Überfahrten erfolgten Rohrverlegungen auf Sohlschwellen oberhalb der Grabensohle. Damit wurde der hydraulisch wirksame Querschnitt des Abflusssystems wesentlich verringert, womit dessen Leistungsfähigkeit unkontrolliert stark eingeschränkt wurde.
Volksstimme: Das Grabensystem wurde vor rund 300 Jahren von den Holländern geschaffen, die die Erfahrung hatten. Heute haben wir aber völlig andere Verhältnisse.
Dr. Sichting: Das zur Entwässerung dienende Grabensystem wurde mit einfachen Mitteln errichtet. Damals bestand bei geringer Besiedlungsdichte eine noch stark ländlich geprägte Infrastruktur. Dies hat sich jedoch grundlegend geändert. Mit der Bevölkerungszunahme wurde die Bebauungsdichte wesentlich erhöht. Die Folge war eine zunehmende Versieglung von Bodenflächen und der Versickerung des Niederschlagswassers in den Untergrund. Dieses führte zusätzlich zu einer allmählichen Erhöhung des Grundwasserstandes, da auch die Verdunstung von Boden und Pflanzen unterbunden wurde.
Volksstimme: Damit geben Sie ein gutes Stichwort: die Verdunstung. Welche Bedeutung hat diese?
Dr. Sichting: Die für die Grundwasserbilanz relevanten meteorologischen Daten wurden 1993 für den Schönebecker Raum wie folgt seitens der Umweltbehörden angegeben: Niederschlag rund 540 Millimeter pro Jahr, ober- und unterirdischer Abfluss 85 Millimeter pro Jahr, Verdunstung von Boden und Pflanzen 455 Millimeter pro Jahr.
Volksstimme: Was bedeutet das nun für Schönebeck?
Dr. Sichting: Das heißt, dass 80 Prozent des Jahresniederschlages bei versiegelten Flächen hier nun zusätzlich als Grundwasser versickern. Das lässt unmittelbar den Grundwasserspiegel kumuliert um gut einen Meter pro Jahr ansteigen. Da sich dieser Anstieg zugleich mit dem unterirdischen Grundwasserabfluss überlagert, kommt es zwar zu dessen großflächiger Verteilung. Jedoch ist damit überall ein deutlich erhöhter Grundwasserstand im Zenti- bis Dezimeterbereich verbunden.
"Baumaßnahmen haben die Grundwasserstände erhöht"
Volksstimme: Kritiker werfen der Stadt und Auftraggebern vor, dass Baumaßnahmen in hohem Tempo in den Untergrund eingreifen, ohne den Faktoren "Baugrund" und "Grundwasser" ausreichend Beachtung zu schenken. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Dr. Sichting: Es ist mittlerweile zur bekannten Tatsache geworden, dass durch vielfältige Baumaßnahmen Grundwasserstände erhöht wurden. Tragisch ist, dass dieses auch dort erfolgte, wo zuvor hoher Grundwasserstand kein Thema war. Auch wurden offensichtlich geologische Störungen angeschnitten, die unter Druck stehendes betonaggressives Grundwasser in die jeweiligen Baugruben eindringen ließ (der Begriff Betonaggressivität beschreibt die Eigenschaft von Grundwasser, Beton und den gegebenenfalls darin enthaltenen Stahl anzugreifen - unter Einwirkung von bestimmten Wasserinhaltsstoffen treten an diesen Baustoffen Zersetzungen auf, die zu beträchtlichen Gebäudeschäden führen können - d. Red.).
"Die Einschaltung von Sachverständigen ist unterblieben"
Volksstimme: Ihrer Meinung nach hat also zusammenfassend die Nichtbeachtung der geologisch-hydreogeologischen Verhältnisse zu Gebäudeschäden geführt. Wie begründen Sie diese Aussage?
Dr. Sichting: Zur Dr.-Tolberg-Straße hat sich der Bauausschuss der IHK Magdeburg besorgt geäußert. Hier stand Grundwasser in mehreren Kellern bis 45 Zentimeter hoch und 18 Zentimeter unter der Fahrbahndecke, obwohl die zuvor erstellte Baugrunduntersuchung an sechs Bohrungen kein Grundwasser festgestellt hat. Dies ist aber während der Baumaßnahme in den Baustellenbereich plötzlich eingedrungen.
Die zwingend vorgeschriebene Einschaltung von Sachverständigen beziehungsweise der zuständigen Wasserbehörde wurde unterlassen.
Volksstimme: Welche Einschätzung resümieren Sie abschließend?
Dr. Sichting: Drei Dinge. Erstens sind meiner Meinung nach Städte und Gemeinden rechtlich und fachlich überfordert und haben zugleich ein Kommunikationsproblem im Umgang mit den Bürgern und den Medien. Zweitens ist der Erhalt und gegebenenfalls der Ausbau von Entwässerungssystemen staatlich von den Wasserbehörden zu kontrollieren und zu sichern. Und drittens sind Baumaßnahmen in der Region - insbesondere Kanalbaumaßnahmen - nur unter strikter Beachtung der DIN 4020 "Geotechnische Untersuchungen für bautechnische Zwecke" durchzuführen.