Hans-Dieter Neidel erzählt erstmals von seiner Flucht 1987 von Stendal aus in den Westen Einfach in den Interzonenzug eingestiegen
Der ehemalige Boxer, der in Schwerin Karriere machte, hatte sich früh mit den DDR-Oberen angelegt. Heute lebt er im westfälischen Minden, wo er seine Erinnerungen zu Papier gebracht hat.
Stendal/Minden l Mit der Sporttasche in der Hand steht Hans-Dieter Neidel in die Redaktion. Nein, sitzen wolle er nicht, sagt der 74-Jährige. Zur Begrüßung streckt er einem die rechte Faust mit einem Grinsen entgegen. Der gebürtige Stendaler bewegt sich noch heute, als stünde er gerade im Boxring. 186 Kämpfe hat er in jungen Jahren bestritten.
Den schwersten Kampf hatte der gelernte Schornsteinfeger allerdings mit den linientreuen DDR-Genossen auszufechten. Man habe ihn immer wieder in die SED drängen wollen. "Ich konnte es nie leiden, wenn man über mich bestimmen wollte", sagt Neidel, der im Eigenverlag seine Erinnerungen und Lebensdokumente in einer Broschüre zusammengestellt hat (siehe Info-Kasten).
Zwei Ausreiseanträge wurden nicht genehmigt
Die Stasi hatte es auf ihn abgesehen, selbst in U-Haft hat er gesessen. Zwei Ausreiseanträge 1984 und 1985 wurden nicht befürwortet. "Die DDR wollte mich loswerden, bloß gehen lassen wollten sie mich nicht", sagt Neidel. Im Februar 1987 gelang ihm dann von Stendal aus die Flucht. "Das habe ich noch nie erzählt", sagt der ehemalige Boxer. Auch in seinen Lebenserinnerungen kommt es nicht vor. "Ich hatte immer Angst, dass es noch Leute gibt, die dabei gewesen sind."
Er sei mit seinem Vater, der Lokführer gewesen war und alle Bahn-Bediensteten Stendals kannte, zum Bahnhof gegangen. Als dann einer der Interzonenzüge in Stendal hielt, sei er einfach unauffällig eingestiegen und ohne weitere Kontrolle in den Westen gelangt. "Das war purer Zufall", sagt Neidel. Er habe aus der Situation heraus gehandelt. "Ich bin ja morgens nicht mit dem Gedanken aufgestanden, jetzt haust Du ab." 47 Jahre alt war er damals, Minden wurde seine neue Heimat, wo er bis heute lebt. Seine Frau, mit der er bis dahin in Berlin lebte, kam später nach - einige Wochen vor dem Mauerfall.
Letztlich war die Flucht wohl eine logische Konsequenz, nachdem er zunächst als Sportler "nach allen Regeln hofiert", dann aber mit 25 Jahren fallen gelassen worden war, weil er sich als politisch unbeugsam gezeigt hatte. Er hatte öffentlich zugegeben, Westfernsehen zu gucken. In der Stasi-Akte steht: "Er liest nur Fachzeitschriften, Tageszeitungen lehnt er ab." Der Stasi-Hauptmann notierte 1963 weiter: "Durch die Hausgemeinschaft wurde zur Wahl eine größere Fahne gekauft. Der Betreffende lehnte eine finanzielle Beteiligung ab." Als Bezirksschornsteinfeger wurde ihm unterstellt, er kassiere nicht genug ab.
Statt der Olympischen Spiele 1964 in Tokio fiel er in der Zeit tief. Karriereende, Entlassung als Bezirksschornsteinfeger in Schwerin. Über Kühlungsborn, wo er Freunde hatte, gelangte er nach Berlin, wo er zumindest wieder als Schornsteinfeger arbeiten konnte.
Bis heute kämpft er für eine höhere Rente
Und heute? Hans-Dieter Neidel lebt in Minden. Er bekommt nur wenige Hundert Euro Rente. "Als ich noch geboxt habe, wurde nur die Zeit als Schornsteinfeger für die Rente angegeben", sagt Neidel. Die Zeiten als Sportler wurden nicht berücksichtigt. "Wie ich gehört habe, ist das anderen Sportlern wie zum Beispiel dem Radler Täve Schur auch so ergangen", erzählt Neidel. Interventionen bei Behörden halfen nichts.