Anhalt-Bitterfeld wird kein neues Flüchtlingsheim bauen oder einrichten Flüchtlinge sollen in Wohnungen leben
Die Anzahl der Flüchtlinge, die im Landkreis Anhalt-Bitterfeld unterzubringen sind, wird in diesem Jahr von rund 550 auf voraussichtlich 850 anwachsen. Der Landkreis will sie in Mietwohnungen unterbringen.
Zerbst/Bitterfeld l Alle neu in Anhalt-Bitterfeld ankommenden Flüchtlinge sollen in Wohnungen untergebracht werden. Zugleich sieht der Kreis davon ab, neben den beiden bestehenden Gemeinschaftsunterkünften weitere einzurichten. Dies erklärte der zuständige Dezernent der Kreisverwaltung, Bernhard Böddeker, gestern vor der Presse. Vorausgegangen war die zweite Beratung des eigens für diese Problematik eingerichteten Arbeitskreises aus Vertretern der Kreistagsfraktionen und der Kreisverwaltung.
Die Wohnungswirtschaft sei bereits angeschrieben worden, so Böddeker. Es gebe ein durchaus zufriedenstellendes Echo. "Wir wollen Familien in ihrer Größe entsprechenden Wohnungen einmieten. Alleinstehende Flüchtlinge sollen zu viert oder fünft in Wohnungen als Wohngemeinschaft untergebracht werden." Die neu ankommenden Flüchtlinge sollen im gesamten Kreisgebiet eingemietet werden. Bislang leben jeweils rund 180 Flüchtlinge (zumeist Asylbewerber) in den beiden Gemeinschaftsunterkünften in Marke und Friedersdorf. Die weiteren rund 190 Flüchtlinge wohnen bereits in Mietwohnungen.
"Uns sind bislang keinerlei negative Entwicklungen oder Probleme bekannt", sagt Böddeker. Keine Spannungen in den Mietshäusern, keine Konflikte. "Bislang geht ihre Anzahl ja auch in der Masse unter. Es ergibt sich unter Umständen eine andere Situation, wenn weitere Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht werden."
Flüchtlinge im Verhältnis zur Einwohnerzahl der Orte
Die Aufteilung der noch kommenden rund 300 Flüchtlinge soll nach einem aus den Einwohnerzahlen abgeleiteten Schlüssel erfolgen. "Dabei ist uns natürlich bewusst, dass nicht jeder Ort geeignet ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Grundbedingungen sind zum einen Einkaufsmöglichkeiten vor Ort, zum anderen eine vernünftige Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr." Anhand dieser Kriterien sind laut Böddeker sämtliche Ortsteile der Stadt Zerbst nicht in die Betrachtung zur Aufteilung der Flüchtlinge einbezogen worden. Lediglich die Kernstadt, so der Dezernent, könne die infrastrukturellen Voraussetzungen bieten. Folglich wird bei der Berechnung des Verteilerschlüssels auch lediglich die Anzahl der direkt in Zerbst lebenden Einwohner zugrunde gelegt. Zudem will der Landkreis eine "Ghettoisierung" tunlichst vermeiden. So falle beispielsweise auch Reuden-Süd aus naheliegenden Gründen "natürlich als potenzieller Standort aus". Auch soll es nicht zum Anmieten ganzer Aufgänge mehrgeschossiger Wohnhäuser kommen.
Die bislang hauptsächlich zentrale Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften wird auch für die bereits in Anhalt-Bitterfeld befindlichen Flüchtlinge nicht mehr favorisiert. "Sollte sich das Einmieten auch in großem Stil in Wohnungen bewähren, ist es vorstellbar, die Betreiberverträge zu den Einrichtungen in Marke und Friedersdorf nicht zu verlängern und folglich alle Flüchtlinge in Wohnungen, also unmittelbar in der Bevölkerung des Landkreises, unterzubringen", sagte Böddeker. Man müsse jedoch abwarten, wieviele Flüchtlinge tatsächlich kommen und für welchen Zeitraum. Waren sie früher zwischen einem halben und zwei Jahren unterzubringen, so liegt die Aufenthaltszeit jetzt bei fünf bis sechs Jahren. "Tendenz steigend", so Böddeker.
Die Abkehr von Gemeinschaftsunterkünften hätte gravierende Auswirkungen auf die Betreuung. In einem vorgegebenen Mindestmaß muss der Landkreis nicht nur für die Unterkunft von Flüchtlingen sorgen, sondern Hilfestellung im täglichen Leben gewähren. Grundsätzlich ist pro 100 Flüchtlinge ein Betreuer einzusetzen. Der hat es ungleich leichter, wenn die Flüchtlinge zentral untergebracht sind. "Es handelt sich um einen aufsuchenden Dienst. Sofern die Flüchtlinge weit verstreut voneinander wohnen, erhöhen sich die Fahrkosten. Wir gehen davon aus, dass wir für Flüchtlinge in Wohnungen einen Betreuungsschlüssel von einer Person für 60 Flüchtlinge benötigen."
Höherer Betreuungsaufwand bei dezentraler Unterbringung
Damit wäre die Kostenersparnis, die sich aus dem Schwenk in den privaten Wohnungsmarkt im Vergleich zur Gemeinschaftsunterkunft durchaus ergeben würde, wieder aufgezehrt. Für Unterkunft und Betreuung jedes Flüchtlings fallen Kosten zwischen 10 und 15 Euro pro Tag an, überschlägt Böddeker. Doch am Geld allein könne man die Problematik ohnehin nicht festmachen. "Wir wollen eine individuelle Betreuung einrichten. Denn wir haben es nicht mit einer homogenen Flüchtlingsmasse zu tun. Es gibt gewaltige Unterschiede hinsichtlich der Motivation. Es ist ein Unterschied, ob eine Familie Schutz in Deutschland sucht, um für vielleicht zwei Jahre einem Bürgerkrieg zu entfliehen, und einem jungen Mann, der allein aus Armutsgründen nach Deutschland kommt oder ob jemand tatsächlich in seiner Heimat politisch verfolgt wird." Der Landkreis strebe für die Zukunft eine "vorübergehende Integration an. Die Flüchtlinge sollen sich stärker an den deutschen Lebensstil anpassen. Was sie in Wohnungen auch müssen. Das geht bei Hausordnung und Mülltrennung los. Da ist also Lernen nötig."
Zudem wird überlegt, den ansonsten lediglich Tag für Tag abwartenden Flüchtlingen Deutsch-Kurse und sogar Berufsausbildungen anzubieten. "Es gibt auch Interesse an Mitgliedschaften in Sportvereinen, und ich könnte mir auch vorstellen, dass Flüchtlinge bei den örtlichen Feuerwehren mitmachen. Die Effekte wären verbesserte Lebensumstände, bessere Integrationsvoraussetzungen und vielleicht bessere Chancen nach der Rückkehr in die Heimat."