Historische Broschüre ab 17. Juni "Abgeholt und verschwunden" Verband erinnert an 28 Schicksale
Die Landesvereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) gibt zum 17. Juni eine Neuauflage von "Abgeholt und verschwunden" heraus. Dabei geht es um das Schicksal von Sachsen-Anhaltern, die wegen ihrer Nähe zum Nazi-Regime nach Kriegsende verhaftet wurden und in sowjetischen Speziallagern starben.
Magdeburg. "Auch fast 60 Jahre nach Auflösung der Speziallager wird ihre Existenz und das Schicksal ihrer Insassen wie die direkte Nachkriegsgeschichte im regionalen Bereich weitgehend beschwiegen", heißt es im Vorwort zu der Broschüre "Abgeholt und verschwunden" (2), die die Landesvereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) jetzt in einer kleinen Neuauflage herausgibt.
Darin wird an das Schicksal von 28 Sachsen-Anhaltern erinnert, die ohne Feststellung einer persönlichen Schuld für die Nazi-Verbrechen wegen ihrer Mitgliedschaft in NSDAP, SA oder SS verhaftet wurden - und in sowjetischen Speziallagern starben. "Mit der Dokumentation ist die Hoffnung verbunden, dass es gelingt, diese Menschen, die zu denen gehören, die die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg mit ihrem Leben bezahlten, angemessen in die Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur aufzunehmen", erklärt VOS-Landesvorsitzener Johannes Rink aus Magdeburg.
Nach Auskunft der beiden Autorinnen, Edda Ahrberg und Dorothea Harder, gibt es auch bei den heute noch wenigen Hinterbliebenen ein Interesse an dieser Geschichtsaufarbeitung. Die erste Auflage aus dem Jahr 2009 war binnen kurzer Zeit vergriffen, nach einer Nachauflage gibt der VOS-Landesverband jetzt eine überarbeitete Auflage heraus - mit der Schilderung dreier weiterer Schicksale, die vor allem Hinterbliebene an den Verband herangetragen haben. So ist es der heute 89-jährigen Tochter von Erich Wagenführ, Jutta Hoffmann, wichtig, berichtet Edda Ahrberg, dass "ihre Geschichte nicht vergessen wird".
Ihr Vater starb 69-jährig am 13. September 1947 im Speziallager Mühlberg (Sachsen). Der 1877 geborene, spätere Getreidehändler hatte in Badersleben eine Firma und einen Speicher. Er war 1938 in die NSDAP eingetreten und hatte die Funktion eines Zellenleiters inne. Am 21. September 1945 war er verhaftet worden - als sie sich von ihrem Vater verabschieden wollte, stieß man ihr einen Gewehrkolben in den Rücken. Sie war daraufhin ohnmächtig geworden und musste ärztlich versorgt werden. Von jenem Tag an hatte sie ihren Vater nie mehr gesehen. Da ihre Mutter bereits 1943 verstorben war, stand sie ganz allein da. Das Verschwinden und der Tod ihres Vaters hat sie ihr Leben lang begleitet.
Für Doris Bloege aus Grieben bei Tangerhütte (Landkreis Stendal) konnten die Autorinnen ermitteln, wo das Grab ihres Vaters, Fritz Hohmann, ist. Er war 1933 in die NSDAP eingetreten, später in die SA. Der Schlosser sollte sich im August 1945 im Gemeindebüro melden. Es wurden Helfer zum Aufbau der zerstörten Tangermünder Elbbrücke benötigt. Fritz Hohmann kam aber nicht zurück - und landete im sowjetischen Speziallager in Sachsenhausen (Brandenburg). Zwischenzeitlich kamen Briefe, in denen er auch die Zustände im Lager bei Oranienburg schilderte. Die letzte Nachricht stammte von Weihnachten 1946. Darin hatte er geschrieben, dass er sich zu einem Arbeitseinsatz in die Sowjetunion gemeldet hätte. Im März 1947 wurde er auf einen Transport in die Sowjetunion geschickt, von dem er nie zurückgekommen ist.
Was wirklich mit ihrem Vater geschehen war, erfuhr die Tochter 55 Jahre später: Ihr Vater war am 2. August 1945 als NSDAP-Zellenleiter verhaftet und am 30. Januar 1947 aus dem Speziallager Sachsenhausen mit dem sogenannten "Pelzmützentransport" nach Sibirien (Gebiet Kemerowo) geschickt worden. Dort starb er, nach einem Arbeitsunfall, sechs Monate später am 20. Juni 1947. Begraben liegt er auf einem Friedhof in unmittelbarer Nähe des Kohlenschachts Gortop (Stadt Prokopjewsk). Für die Tochter ist es ein Trost, nach so langer Zeit Gewissheit zu haben, wo ihr Vater begraben liegt.
Dass diese Schicksale im Gedächtnis der Familie haften blieben, zeigt auch der Bericht von Steven Karow, der über seinen Uropa Wilhelm Hermann Wöhler aus Wanzleben schreibt: Er war 52-jährig im Speziallager Mühlberg am 24. November 1945 verstorben - was mit ihm genau passiert war, hatte der Urenkel erst über Forschungen zur Familiengeschichte erfahren können. Bis zum Tod seiner Oma Marga Protzek im Jahr 2008, der Tochter von Wilhelm Wöhler, hatte er gemeinsam mit ihr die Gedenkstätte in Mühlberg besucht. Sie hatte, so schreibt der Enkel, die Gedenkstätte als würdigen Ruheplatz für ihren Vater empfunden.
Der VOS-Landesverband will alle ermutigen, sich mit den Ereignissen in ihrer Heimat zu beschäftigen. Wohlwissend, dass dies nicht leicht ist, werden doch auch familiäre Verstrickungen mit dem Naziregime dabei offenbar. Edda Ahrberg bedauert, dass das Thema Deutschland zwischen Kriegsende und den 50er Jahren in den Schulen nicht stärker thematisiert wird. "Es geht da hauptsächlich um das Dritte Reich und die Stasi." Diese Zeit aber finde kaum Berücksichtigung und sie war lange ein Tabu. "Die letzten Hinterbliebenen sterben langsam weg und dann wird noch mehr vergessen."
Die Broschüre ist ab 17. Juni erhältlich. An diesem Tag – in der Zeit des geteilten Deutschlands in der Bundesrepublik der "Tag der Deutschen Einheit" – legen die Verfolgtenverbände an der ehemaligen Magdeburger Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit Kränze nieder.