70 Landtagsabgeordnete, deren Mitarbeiter sowie Minister zeigten in der Altmark Flagge Insel: "Die Menschenwürde ist unantastbar"
In Insel trifft sich gestern Abend die Politprominenz Sachsen-Anhalts, um gegen Intoleranz Flagge zu zeigen. Im Gutshaus derer von Bismarcks in Döbbelin beraten sich derweil der Ortsbürgermeister von Bismarck und 20 Einwohner von Insel, um das weitere Vorgehen gegen zwei entlassene Sicherungsverwahrte abzusprechen.
Insel l Das Plakat ist deutlich: "Gegen den Volksmob", dazu die Konterfeis von Innenminister Holger Stahlknecht und von Ortsbürgermeister Alexander von Bismarck (beide CDU). Ihnen geben die rund 20 Antifa-Demonstranten aus Magdeburg und Halle die Mitschuld daran, dass die beiden Sexualstraftäter und ehemaligen Sicherungsverwahrten im Stendaler Ortsteil Insel nicht zur Ruhe kommen.
Es gibt ein Gerangel. Die Einsatzhundertschaft ist nicht zimperlich. Das Plakat reißt von einem der Haltehölzer. "Freie Meinungsäußerung!", beschwert sich ein junger Mann. Und auch der bündnisgrüne Landtagsabgeordnete Sebastian Striegel geht verbal dazwischen. Umsonst.
Der Vizepräsident der Polizeidirektion Nord, Günter Romanowski, verteidigt das Vorgehen der Polizei mit "ehrabschneidenden Äußerungen der Demonstranten".
"Die ganzen Politiker hier sind doch bloß pressegeil."
Zur selben Zeit, als sich am Ende der Kundgebung der Zwischenfall ereignet, steht Landtagspräsident Detlef Gürth (CDU) vor dem alten Gemeindehaus am Mikrofon und erklärt, warum Landtagsabgeordnete aller Parteien in Insel Flagge zeigen. "Die Würde des Menschen ist unantastbar", zitiert er das Grundgesetz. Dasselbe ist auf einem 20 Menschen langen blauen Plakat zu lesen, das hinter dem Redner von Abgeordneten gehalten wird.
Die Politiker, unter ihnen Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), Innenminister Holger Stahlknecht und Justizministerin Angela Kolb (SPD), sind in den 400-Einwohner-Ort gekommen, um ein Zeichen gegen Intoleranz zu setzen. Stahlknecht spricht in diesem Zusammenhang von "Signalwirkung für ganz Deutschland", das die Verwaltungsgerichte gesetzt haben, mit dem Verbot der "menschenunwürdigen" NPD-Demo. Die rechtsextremistische Partei wollte gestern Abend gegen die Ex-Häftlinge demonstrieren. Bereits in der Vergangenheit hatte sie sich unter die trötenden und Plakat haltenden Bürger Insels gemischt, für die ein Zusammenleben mit den Haftentlassenen nicht möglich scheint.
In letzter Minute hatte das Oberverwaltungsgericht gestern das Verbot des NPD-Aufmarschs bestätigt. So war der Kreischef der Altmark-NPD Heiko Krause gezwungen, aus gebührender Entfernung und mehr oder weniger unter Aufsicht der Polizei von Stendal aus "zuzusehen".
Kolb betont erneut, dass "freie Bürger auch das Recht auf freie Wohnsitzwahl haben". Sie räumte allerdings ein, dass es sich bei der Wiedereingliederung von Straftätern um ein "hochsensibles Problem" handele, für das es "keine allgemeingültige Lösung" gebe. "Bei der Justizministerkonferenz haben ich schon das Thema für das abendliche Kamingespräch angemeldet. Schließlich betrifft die Sache alle Länder."
Am Kriegerdenkmal, das an die Gefallenen des Ortes im Zweiten Weltkrieg erinnert, parken Polizeibullis. Wenige Schritte weiter beginnt die Hochsicherheitszone der Luise-Mewis-Straße. Abgeschottet durch Metallgitter. Bewacht von Polizisten. Insgesamt sind 100 in Insel im Einsatz, noch einmal so viele im Umfeld. Die kleine Stichstraße, in der die beiden Männer wohnen, ist zusätzlich gesichert.
"Was das wieder an Steuergeldern kostet?", regt sich ein Mann auf. Ein anderer nickt und schimpft: "Das ist doch nur Show hier. Die ganzen Politiker sind doch bloß pressegeil. Die wollen sich doch bloß im Fernsehen sehen." Eine Hilfe sei der "Aufmarsch" für die Einwohner nicht.
Waltraud Klingbeil gehört zu den Insel-Bewohnern, die gegen die Hetzjagd auf die Männer sind. Doch auch sie ist ratlos, was zu tun ist. Allerdings: "Es sind ja nur um die 40 Leute, die hinter dem Ortsbürgermeister stehen und gegen die Entlassenen demonstrieren. Die Mehrheit hat ja eine andere Meinung. Aber die sind eben zu ruhig."
Flagge zeigen auch Mitglieder des Landesverbandes für Straffälligen- und Bewährungshilfe. Geschäftsführerin Delia Göttke: "Solange nur darüber geredet wird, wie und wann die Männer den Ort verlassen, wird es keine Lösung geben." Der Fehler sei gewesen, dass es von Anfang an "keine fachliche Begleitung" des Problems gegeben habe. "Ich frage mich, wie die Einwohner reagieren würden, wenn es sich um ihre Brüder, Söhne oder Onkel handeln würde?"
Zur selben Zeit treffen sich auf Schloss Döbbelin einige Inseler, die von Ortsbürgermeister Alexander von Bismarck dorthin eingeladen worden waren. "Viele wissen nicht wohin, ich biete ihnen eine Rückzugsmöglichkeit", sagt er. So könnten sie dem Aufmarschgebiet in Insel entkommen.
"Wir lassen uns nicht schulmeistern von Oberlehrern aus Magdeburg"
"Keiner hat mit uns gesprochen, uns zu dieser Veranstaltung eingeladen", kritisiert er. Das sei keine Art und Weise. Er dankt Oberbürgermeister Klaus Schmotz, dem Landtagsabgeordneten Hardy Güssau (beide CDU) und dem CDU-Fraktionsvorsitzenden im Kreistag, Wolfgang Kühnel, die nicht nach Insel gekommen waren, weil sie "die Bevölkerung nicht demütigen wollten".
Zu den Gästen in Döbbelin gehört Nico Stiller von der Bürgerinitiative (BI) Insel. "Wir sind hier, um deeskalierend zu wirken", erklärt er. Man wolle nicht in den Konflikt zwischen Rechten und autonomen Linken geraten, allerdings auch nicht schulmeistern lassen "von den Oberlehrern aus Magdeburg". Und sein Ton wird noch schärfer. "Wir sind zwar das Land der Frühaufsteher, aber die Politiker haben ein dreiviertel Jahr gepennt", war er erzürnt.
"Ich habe Angst um die Frauen im Ort", sagt ein Besucher, der seinen Namen nicht nennen will. Er ist für den Wegzug der beiden Männer, akzeptiert aber auch andere Meinungen. Etwa die von Waltraud Klingbeil. "Ihr Neffe ist mein bester Kumpel, und wir kennen uns schon so lange, da wäre es doch Quatsch, nicht miteinander zu reden", meint er. Sie behandeln sich mit gegenseitigem Respekt. Er weiß aber auch, dass andere Inseler nicht so denken und Klingbeil offen ihre Abneigung spüren lassen. Neben der Rückzugsmöglichkeit hinter verschlossenen Türen soll das Treffen der BI auch die Chance geben, über das weitere Vorgehen zu beraten. Am frühen Abend erklärt Claudia Bartels gegenüber der Volksstimme: "Wir werden heute keine Ergebnisse unserer Gespräche mehr bekannt geben, wahrscheinlich erst nach dem Wochenende." In den kommenden Wochen will die BI ihr Ziel, den Wegzug der Männer, weiter verfolgen. Allerdings sagt Bartels nicht, ob am Montag wieder zur Demo aufgerufen wird. Angemeldet ist sie jedenfalls.
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