Volksstimme-Streitgespräch mit Dietrich Lührs vom Verband Freier Schulen und Thomas Lippmann von der Lehrergewerkschaft GEW Schulnoten: Zu streng oder zu lasch?
Seit Beginn des Schuljahres haben es Schüler in Sachsen-Anhalt leichter, bessere Noten zu erhalten. Über das Für und Wider stritten Thomas Lippmann, Landeschef der Lehrergewerkschaft GEW und Dietrich Lührs, Vorsitzender des Verbandes Freier Schulen, moderiert von Volksstimme-Redakteur Winfried Borchert.
Volksstimme: Herr Lippmann, Herr Lührs, machen wir es unseren Kindern zu leicht, wird die Schule zu lasch?
Dietrich Lührs: Inhaltlich habe ich ein Problem mit der deutlichen Herabsetzung der Leistungsanforderungen. Dass man jetzt schon mit 40 Prozent die Note Vier erreicht und dass die Mindestanzahl der Klassenarbeiten in den Klassenstufen fünf bis zehn drastisch gesenkt wird, halte ich für eine Entwicklung in die völlig falsche Richtung.
Thomas Lippmann: Die Lockerungen sind vernünftig. Vor allem erhalten die Schulen endlich größere Spielräume, wie sie künftig aus ihrer pädagogischen Sicht mit den Klassenarbeiten umgehen wollen. Bei 15 000 Lehrkräften gibt es zu viele unterschiedliche Typen, Erfahrungen und Methoden, wie man Schüler unterrichtet und bewertet, als dass man mit den Klassenarbeiten ein Element so stark überhöhen darf. Im Übrigen gehen wir mit der Neuerung auch nur auf die Zeit vor 2003 zurück. Hinsichtlich der bisher vorgeschriebenen Mindestanzahl und -dauer von Klassenarbeiten haben wir in den letzten Jahren ein regelrechtes Ausufern gehabt. Schulen wurden wie nie vorher gegängelt, mussten komplizierte Pläne machen, sonst hätten sie die Klassenarbeiten gar nicht unterbekommen.
Lührs: Richtig ist, dass der alte Erlass die Schulen zum Teil stark reguliert hat. Aber eine fast vollständige Freigabe der Leistungsbewertung ist die falsche Antwort. Es geht nicht um Gängelung, sondern um eine angemessene Leistungsbewertung, die auch über die einzelne Schule hinaus vergleichbar sein muss. Natürlich kann man auch mit und trotz des neuen Erlasses guten Unterricht machen und Leistungen bewerten. Aber die mögliche Schwankungsbreite ist zu groß. Und der neue Erlass verhindert die Vergleichbarkeit von Leistungen verschiedener Schulen. Die eine Schule schreibt etwa in Mathematik vier Klassenarbeiten pro Jahr, die andere nur zwei. Das kann es nicht sein.
Lippman: Den schriftlichen Arbeiten wurde seit Jahren ein viel zu hohes Gewicht beigemessen. Dadurch waren Schüler, die ihre Stärken in anderen Bereichen haben, benachteiligt. Von daher sehe ich das als Entspannung. Wer mehr Klassenarbeiten schreiben will als das Mindestmaß, kann sich in der jeweiligen Fachkonferenz darauf verständigen.
Wichtig ist, dass der neue Erlass nach zwei Jahren gemeinsam mit den Praktikern aus den Schulen überprüft und dort, wo es notwendig ist, nachgebessert wird.
Lührs: Ich sehe die Änderung unter der Überschrift: Möglichst viele Schüler durch die Schule zu ziehen - mit einem Abschluss, der bisweilen das Papier nicht wert ist, auf dem er steht. Und das ist das Schlimmste, was man einem schwachen Schüler antun kann. Es wird noch leichter, das Klassenziel zu erreichen. Sitzenbleiben ist praktisch unmöglich. Die Senkung der Leistungsanforderung halte ich für das Gymnasium für verheerend.
"Es wird noch leichter, das Klassenziel zu erreichen. Sitzenbleiben ist praktisch unmöglich."
Lippmann:Aber die Leistungsanforderungen werden doch nicht durch den Bewertungsschlüssel aus dem Erlass bestimmt. Die Lehrkräfte entscheiden durch die Auswahl der Aufgaben, was letztlich von den Schülern verlangt wird und welche Bewertung sie dafür erhalten. Durch den neuen Erlass wird kein Schüler besser abschneiden, aber auch keiner schlechter.
Volksstimme: Stellt sich damit nicht die Frage, wie viele Abiturienten möchte das Land haben?
Lührs: Ich meine, dass die Zugangsquote zum Gymnasium nicht noch weiter erhöht werden sollte. Die gymnasiale Ausbildung sollte in erster Linie zum Studium hinführen. In den letzten Jahren beobachte nicht nur ich, dass zunehmend mehr Abiturienten nicht studierfähig sind und viele stattdessen eine Berufsausbildung beginnen. Das halte ich für den falschen Weg, auch weil dadurch viele Sekundarschüler aus Berufen verdrängt werden, für die ein Abitur eigentlich nicht notwendig wäre.
Lippmann: Da muss ich widersprechen. Die Frage für uns alle muss doch sein: Wie schaffen wir es, möglichst viele Schüler zu einem Leistungsniveau zu führen, das einen Hochschulzugang ermöglicht. Es geht selbstverständlich nicht darum, Zugangsberechtigungen zu verschenken, sondern darum, Leistungen zu steigern.
Volksstimme: Zurzeit wechseln zwischen 40 und 50 Prozent der Grundschüler anschließend aufs Gymnasium. Wie viele sollten es sein?
Lippmann: Möglichst alle, die das in einem guten Bildungssystem können. Wenn das am Ende 75 Prozent der Schüler sind, dann sind es eben so viele. Wir können doch nicht ernsthaft Abiturientenquoten künstlich begrenzen.
Lührs: Ich halte überhaupt nichts davon, die Zahl der Abiturienten künstlich zu erhöhen. Dadurch leidet die Qualität am Gymnasium und es schadet schwächeren und guten Schülern.
Volksstimme: Es gibt Jahr für Jahr Schüler, die am Gymnasium scheitern und über den aufwendigen Umweg über die Sekundarschule und das Fachabitur zur Hochschule kommen, dort auch gut abschneiden. Läuft an den Gymnasien etwas falsch?
Lührs: Da sind wir bei der Frage, ob wir wirklich mehr Studenten brauchen. Klare Antwort: Nein. Wir brauchen allenfalls qualifiziertere Studenten.
Lippmann: Dass wir mehr Studenten brauchen, kann nicht bezweifelt werden. Jede hochentwickelte Gesellschaft braucht so hohe Bildungsabschlüsse wie nur irgend möglich. Man kann sich über Wege und Mittel streiten, nicht aber über dieses grundsätzliche Ziel. Selbst viele Handwerksbetriebe brauchen bereits höhere Abschlüsse als die einfache Berufsausbildung.
Lührs: Das stimmt nur insofern, als die Bildungsabschlüsse auch wirklich das wert sein müssen, was sie vorgeben. Aber Abiturienten auf dem Papier helfen sich und der Gesellschaft nicht, wenn sie an der Uni scheitern. Zugleich sorgt der Ansturm auf die Gymnasien dafür, dass aus der Sekundarschule eine Restschule wird. Wir brauchen doch in Zukunft auch Handwerker und Arbeiter. Oder soll in Zukunft der Presslufthammer nur mit Abitur bedient werden dürfen?
Lippmann: Die Klagen der Universitäten und der Betriebe über abnehmende Leistungen der Schulabgänger gibt es seit Jahren. Aber das sind ja Klagen über Schulabgänger, die in den letzten acht Jahren unsere Schulen unter dem verschärften Leistungsbewertungserlass durchlaufen haben. Es ist also ein Irrglaube, dass scharfe oder lasche Vorgaben zur Leistungsbewertung maßgeblich etwas an den Schülerleistungen ändert.
Volksstimme: Warum?
Lippmann: Weil die Lehrkräfte entscheidenden Einfluss auf die Schülerleistungen haben. Durch ihre Art und Weise, Lerninhalte zu vermitteln und durch das, was sie in Klassenarbeiten und Tests verlangen. Ein hochgezogener Bewertungsschlüssel führt erfahrungsgemäß dazu, dass Lehrer in Tests die Anforderungen senken, um nicht zu viele schlechte Noten vergeben zu müssen. Ein gemäßigter Bewertungsschlüssel gibt dagegen Lehrkräften mehr Luft, anspruchsvollere Aufgaben zu stellen.
Volksstimme: Viele Eltern erleben, dass bereits zwei Lehrer an der gleichen Schule, im gleichen Fach Schülerleistungen unterschiedlich bewerten. Ist die Vergleichbarkeit von Leistungen an verschiedenen Schulen eine Illusion?
Lührs: Wenn es solche Schwankungen gibt, muss man nachhaken. Bei gutem Unterricht können sie nicht groß sein. Die Tatsache jedoch, dass es solche Schwankungen gibt, kann kein Argument dafür sein, dass man die Bewertung vollkommen freigibt. Dass so viele Studenten ihr Studium abbrechen und den Anforderungen nicht gewachsen sind, liegt doch nicht an den strengen Regelungen des alten Leistungsbewertungserlasses, sondern daran, dass wir seit Jahrzehnten die Übertrittsquote an die Gymnasien erhöhen und aus vielen Gymnasien praktisch Gesamtschulen ohne Konzept gemacht haben.
Volksstimme: Stellt sich da die Frage, welchen Sinn Noten haben und was man mit ihnen bewirken kann und sollte?
Lührs: Grundsätzlich ist eine Note eine Rückmeldung an Schüler und Eltern über den Leistungsstand. Klassenarbeiten sind ein wichtiges Mittel dazu, aber nicht das einzige. Im Zusammenspiel mit der Mitarbeit und Kurzkontrollen ergibt sich ein stimmiges Bild. Mit Blick auf das spätere Studium und den Beruf muss man sagen, Leistung zu bringen, kann nicht nur Spaß machen, man muss auch lernen, sich anstrengen zu können - auch dann, wenn man mal gerade keine Lust hat.
"Es geht nicht darum, Zugangsberechtigungen zu verschenken, sondern darum, Leistungen zu steigern."
Lippmann: Klar ist aber, Noten sind nicht objektiv.
Lührs: Das gilt für alle Noten.
Lippmann: Stimmt. Sie sind nur ein Referenzsystem innerhalb des Unterrichts einer Lehrkraft in einer Schulklasse. Die nicht seltenen Beispiele von teils drastischen Notenschwankungen bei Lehrer- oder Schulwechsel zeigen, man darf die Bedeutung von Noten nicht überschätzen. Zugleich sind Klassenarbeiten nur ein kleines Segment der Leistungsüberprüfung, eigentlich nur dafür bestimmt, Schüler vernünftig auf spätere schriftliche Abschlussprüfungen vorzubereiten.
Bis zur zehnten Klasse könnte man in allen Fächern ohne schriftliche Abschlussprüfungen ganz ohne Klassenarbeiten auskommen. Es gibt alternativ viele Formen von Leistungsanforderungen, die genau so anstrengend und so relevant in der Rückmeldung sind wie Klassenarbeiten.
Lührs: In den Klassenstufen elf und zwölf geht es nicht ohne Klausuren. Wie wollen Sie das machen, wenn es um die Zulassung zu einem Studium mit bestimmten Abiturleistungen geht?
Lippmann: Ja, für die gymnasiale Oberstufe ist das in Ordnung, aber da hat sich ja im neuen Erlass auch nichts verändert.
Lührs: Richtig, aber es ist wichtig, die Schüler bereits in den unteren Klassenstufen auf schriftliche Prüfungen vorzubereiten.
Lippmann: Nein, nicht so früh. Ein 10 000-Meter-Läufer muss auch nicht schon nach 4000 Metern anfangen zu sprinten, wenn er erfolgreich ins Ziel kommen will. Wenn weiter so viele Klassenarbeiten geschrieben werden wie bisher, bleibt zu wenig Platz für die Stoffvermittlung, für praktische Nachweise oder für kleinere Übungen.
Volksstimme: Herr Lührs, wie werden Sie die Neuregelung an Ihrer Schule handhaben?
Lührs: Wir werden in den Fachkonferenzen mit Lehrern und Eltern beraten. Diese können vorschlagen, wie viele Klassenarbeiten sie pro Jahr schreiben. Abschließend entscheidet die Schulleitung. Ich glaube, dass wir den meisten Vorschlägen folgen werden. Was ich mir aber nicht vorstellen kann, ist z. B. , dass wir in den Klassen acht, neun und zehn in Chemie, Biologie und Physik nur eine Klassenarbeit im Schuljahr schreiben. Auch deshalb, weil man eine vergeigte Klassenarbeit so nicht mehr ausgleichen kann. So mancher Schüler wird sich im Übrigen noch wundern, wie viele Tests auf einmal geschrieben werden, die anders als Klassenarbeiten immer gewertet werden können, auch wenn sie schlecht ausfallen.
Lippmann: Ich rechne damit, dass die Bewertungsmaßstäbe in den Schulen künftig breiter gefächert werden. Es ist gut, dass Schulen mehr Spielräume erhalten, wie sie Wissen vermitteln und Leistungen bewerten. Es ist ja der Charakter von Pädagogik, dass es nicht nur die eine Wahrheit gibt. Wenn man in den Fachkonferenzen die Eltern- und die Schülervertreter über diese Frage beteiligt, ist das eine gute Sache. So erfolgt eine Auseinandersetzung darüber. Es wird nicht einfach von oben vorgegeben, sondern nur eine Orientierung aufgezeigt. Das stärkt die Eigenverantwortung von Schulen und wird nicht zuletzt zu einer höheren Akzeptanz bei Eltern und Schülern führen.
Volksstimme: Herr Lührs, ein Plädoyer für die Freiheit - hören Sie das als Vertreter der freien Schulen nicht gern?
Lührs: Gewiss. Aber der Lehrerberuf verfügt über eine Freiheit, wie man sie nur in wenigen Berufen hat, so dass ich es nicht als Einschränkung empfinde, wenn es gewisse Vorgaben bei der Anzahl der Klassenarbeiten gibt.