DDR-Deutsch und die Folgen Heute schon an der sozialistischen Menschengemeinschaft gebaut?
Berlin (dpa) | Manfred W. Hellmann hat 1964 angefangen, die sprachliche Entwicklung in Ost- und Westdeutschland zu beobachten – und erst 2001 damit aufgehört. Den westdeutschen Linguisten hat es nicht gewundert, dass die Kommunikation direkt nach dem Mauerfall so oft schief ging. "Das hat mich bedrückt", sagt er im Interview.
Frage: Was ist 1989 mit der deutschen Sprache passiert?
Manfred W. Hellmann: Erst einmal gab es kommunikatives Chaos. Da ging alles schief, was zwischen Ost und West schiefgehen konnte. Es gab viele Wörter mit einer unterschiedlichen Bedeutung – wie Bilanz. Wessis denken da an Gewinn und Verlust, Ossis an das Gleichgewicht zwischen Planauflage und Planerfüllung. Dazu kam ein völlig anderes Kommunikationsverhalten. Diese komplizierte Gemengelage war in der Zeit der Teilung überdeckt worden, weil es ja relativ wenig Kontakte gab. Und wenn, nahmen DDR-Bürger auch sprachlich Rücksicht auf ihre westdeutschen Besucher.
Frage: Gab es so etwas wie eine sprachliche Wiedervereinigung?
Nein, das war eindeutig eine sprachliche Übernahme. Die Anpassungsleistung hat allein der Osten erbracht. Da sage ich heute noch: Hut ab. Von den 800 bis 1400 Wörtern, die DDR-spezifisch waren, haben im Osten nur ganz wenige überlebt. Broiler und Kaufhalle zum Beispiel. Noch weniger haben Eingang in den gesamtdeutschen Wortschatz gefunden – wie "Fakt ist". Es gab aber auch Wörter, die nach der Wende im Osten eine schärfere Bedeutung bekamen, zum Beispiel "abwickeln". Das stand dann fast für ein menschenverachtendes Verhalten.
Frage: Gab es in der DDR denn wirklich ein anderes Deutsch?
Es gibt die These, dass es die ideologisch-formelhaft geprägte DDR-Sprache gab, den SED-Jargon, der sich wie eine Decke über das vermeintlich gemeinsame Umgangsdeutsch legte. Ich halte diese Hypothese für zu einfach. Es gab viel mehr Schichten von Sprache. In der Arbeitswelt der DDR hat sich das oft vermischt. In Betrieben haben viele Kollegen auch von Brigade und Plankennziffer gesprochen. Doch sie haben bestimmt nicht gesagt: "Jetzt bauen wir mal weiter an der sozialistischen Menschengemeinschaft." Aber viele Westdeutsche waren nach der Wende nicht in der Lage, da zu unterscheiden. Die haben gedacht: Das sind alles SED-Wörter. Wer die benutzt, kann ja nur ein SED-Mensch sein.
Frage: Gab es im Osten eine sprachliche Schere im Kopf?
Ja, der offizielle Jargon war in der DDR eindeutig schärfer von der Alltagssprache getrennt als im Westen. Wenn DDR-Bürger Gesprächspartner nicht kannten, benutzten sie ein anderes Vokabular. Das war wie ein Umschalten. Wenn ich mit Leipziger Bekannten in der Straßenbahn saß, haben sie ganz anders mit mir gesprochen als später, wenn wir allein waren. Schon Kinder wurden zu dieser Art von Zweisprachigkeit erzogen.
Frage: Wie anders war das Kommunikationsverhalten im Osten?
Es gab kommunikative Situationen, auf die ein Ost-Bürger gar nicht vorbereitet war, zum Beispiel ein Vorstellungsgespräch. Das ist heute anders. Aber die Lernprozesse sind nicht abgeschlossen. Wenn ein Ostdeutscher auf eine andere Meinung einer vermeintlichen Autorität trifft, kann es passieren, dass er einfach schweigt – oder abwehrt. Ein Westdeutscher versteht das nicht. Er fragt sich: Warum sagt der denn nicht seine Meinung und diskutiert das mit mir aus? Aber solche Diskussionen konnten in der DDR existenzgefährdend sein. Das hat der Wessi bis heute nicht begriffen. Und deshalb redet er einfach weiter. Er denkt, er habe nicht genug argumentiert.
Frage: Und das läuft wirklich bis heute so?
Es ist viel stärker abgeschwächt. Und vor allem ist es eine Generationenfrage. Das ist ein Problem der Generation, die beim Fall der Mauer erwachsen war. Junge Leute kriegen oft einen Lachkrampf, wenn sie heute eine alte DDR-Zeitung lesen.