FCM-Arena Hüpfen, bis der Statiker kommt
Alle springen im Takt, bis die Tribüne schwankt - dieses Problem gibt es nicht nur in der Magdeburger MDCC-Arena.
Was genau ist das Problem?
Beim gleichzeitigen rhythmischen Hüpfen der Fans auf den Rängen schwingen die Tribünen bis zu drei Zentimeter. Das hat die Stadt Magdeburg als Stadioneigentümer mit hochsensiblen Messgeräten festgestellt.
Warum schwingen die Tribünen?
Schwingungen der Tribünen beim Hüpfen und anderen Anfeuerungen der Fans sind ganz normal. Sie sind auch einberechnet in den Bau. Die Tribünen nehmen die Last der Fans auf und schwingen. Zum Problem wird das Schwingen erst, wenn die Menschenmenge zeitgleich synchron hüpft. Dann werden extreme Kräfte ausgeübt, die die Tribünen an ihre Belastungsgrenze bringen.
Daraus entsteht kein akutes Problem, die Tribünen bleiben sicher. Allerdings haben solch extreme Belastungen einen Einfluss auf die Dauerfestigkeit. Wenn die Tribünen weiterhin so beansprucht werden, könnte sich die Lebensdauer des Stadions erheblich verkürzen. „Rein rechnerisch ist eine verbleibende Standzeit von etwa siebeneinhalb Jahren ermittelt worden“, sagt Heinz Ulrich vom Kommunalen Gebäudemanagement der Landeshauptstadt. Gerechnet hatte man bei der im Dezember 2006 eröffneten Arena ursprünglich mit rund 50 Jahren.
Besteht eine akute Gefahr für die Sicherheit im Stadion?
Nein, laut Heinz Ulrich werden alle Normen und Vorschriften eingehalten. Es gäbe aktuell keinen Grund für besondere Maßnahmen. „Es besteht keinerlei akute Gefahr für die Standsicherheit“, sagt er. Es bestehe auch keine Gefahr, dass durch das Hüpfen die Eigenschwingung der Tribünen erreicht wird und sich dadurch alles aufschwingt. Die sogenannte kritische Eigenschwingung der Tribünen könne nach heutigem Ermessen nicht durch das Hüpfen der Fans erreicht werden, so Ulrich.
Welche Kräfte wirken und wofür wurde das Stadion ausgelegt?
Die Tribünen sind so gebaut, dass sie mehr als das Doppelte der Last der vorgeschriebenen Norm aushalten. Gefordert werden 500 Kilogramm je Quadratmeter. Tatsächlich halten sie 1100 Kilogramm je Quadratmeter aus. Dabei handelt es sich aber um eine rein rechnerische statische Belastung.
Wurden hüpfende Bewegungen der Fans mit eingeplant?
Ja und nein. Bei den Planungen wurde natürlich einberechnet, dass sich die Fans auch bewegen. Mit so starken Hüpfbewegungen wurde aber offensichtlich nicht gerechnet. Ulrich versucht es mit einer Vereinfachung der komplexen Messergebnisse: „Ein springender Fan kann durch seine Dynamik die 5,8-fache Belastung auf die Tribüne ausüben als ein sitzender Fan.“
Entscheidend ist die Anzahl und die Schwere der Stoßeinwirkungen pro Zeiteinheit. Hüpfen die Fans im Takt und werden immer schneller, ist die Belastung besonders groß. „Choreografien, die nicht die Gleichzeitigkeit schwerer Stöße befördern, wären unproblematisch“, sagt Ulrich.
Ist das Hüpfen der Fans ein neues Stadionphänomen?
Ja, sagt zumindest Heinz Ulrich. „Das Stadion entspricht allen Normen. Dieses gleichmäßige Hüpfen war zur Zeit der Planungen Anfang der 2000er Jahre noch nicht so stark ausgeprägt wie heute“, sagt er.
Diese Sichtweise ist umstritten. Michael Kasperski, Ingenieurwissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum, warnt schon seit Jahren vor Statikproblemen bei Stadiontribünen. Spätestens seit dem Jahr 2005, als im Stadion in Nürnberg Teile der Betonverkleidung abplatzten, ist das Problem bekannt. Auch im Vorfeld der WM 2006 in Deutschland hat Kasperski die Innenminister der Länder auf Sicherheitslücken durch „dynamische Schwingungen“ aufmerksam gemacht.
In Magdeburg wurde das Stadion 2005/2006 umgebaut. „Nach meiner Beobachtung hat das Hüpfen auf den Tribünen etwa ab dem Jahr 2000 zugenommen. Neue Lieder und neue Rhythmen haben dazu geführt. Da hätte man in Magdeburg vielleicht stärker darauf achten können“, sagt Manfred Klawonn von der Firma Assmann. Der Tragwerksplaner gilt als Pionier des modernen Stadionbaus. Er hat viele Arenen in Deutschland errichtet: Schalke, Augsburg, Rostock, Dresden und die o2-World in Berlin gehören zu seinen Referenzen.
Gibt es vergleichbare Fälle?
Ja. Im Internet gibt es Dutzende Videos, auf denen zu sehen ist, wie sich Betonfugen öffnen und Tribünen auf und ab schwanken. Im Stadion in Nürnberg regnete es 2005 schon einmal Betonteile auf Fans im Unterrang. Auch auf der Südtribüne in Dortmund, der größten Stehplatztribüne Europas, haben Experten beobachtet, dass das Hüpfen der Anhänger im Takt immer koordinierter geschieht. Laut den Berechnungen würde ein 80-Kilo-Fan, wenn er springt, etwa mit 300 Kilo auf die Tribüne einwirken. Wenn das ein ganzer Fanblock synchron macht, führt die Tonnen-Last zu Risiken. Mit zusätzlichen Stützen wurde die Konstruktion versteift, das Schwingen ist nun weniger zu spüren. Kostenpunkt: Rund eine halbe Million Euro.
Gab es schon Unglücke durch Tribünenschwingungen?
Im Nürnberger Stadion waren wegen Schwingungen bei Open-Air-Konzerten schon Mitte der 90er Jahre ein Teil der Tribünen mit schwingungsreduzierenden Maßnahmen versehen worden. Der Kurvenbereich hinter der Bühne war von diesen Maßnahmen ausgenommen – mit dem Hinweis, dass Fußballfans hier nicht hüpfen würden. Ein Irrglaube, wie sich 2005 herausstellte: Es kam beinahe zu einem Unglück, als sich kleinere Betonstücke von den Oberrängen lösten und auf die Fans im Unterrang fielen. Danach wurde auch diese Tribüne entsprechend gesichert.
Im November 2007 sind in Salvador in Brasilien mehrere Personen umgekommen, als die Tribüne des Stadions Estádio Fonte Nova einstürzte. Als die Fans den Aufstieg ihres Vereins feierten, gab die Tribünenkonstruktion unter der Last der hüpfenden Menschenmassen nach. Sieben Menschen stürzten 20 Meter tief in den Tod, 85 Personen wurden verletzt. Für die WM 2014 wurde das Stadion abgerissen und an gleicher Stelle neu errichtet.
Ab wann wird das Schwingen der Tribünen gefährlich?
Das können Prüfingenieure nur mittels Messungen feststellen. Tragwerksplaner Klawonn sagt, dass Risse im Beton ein relevantes Kriterium seien. „Spätestens dann muss die Tragfähigkeit einer Tribüne hinterfragt werden. Denn wenn Feuchtigkeit eindringt, erodiert das Ganze“, sagt er.
Lässt sich das Problem baulich beheben?
Möglicherweise könnten Schwingungsdämpfer helfen. Damit wurde 2005 die Nordkurve des Oberrangs in Nürnberg ausgestattet. Diese Federpakete sollen verhindern, dass sich die Tribüne durch die Hüpfbewegungen der Zuschauer aufschaukelt. Ein Test hatte davor ergeben, dass die Tribüne Schwingungs-Bandbreiten bis zu sieben Zentimetern aufweist. Ab acht Zentimetern wäre ein Hüpfverbot erlassen worden. Wie man das bei Fußballspielen hätte durchsetzen wollen, ist unklar.
Für Magdeburg sagt Heinz Ulrich: „Es ließen sich sicher nach aufwendigen und umfangreichen Untersuchungen Lösungen darstellen. Allerdings wären in der Folge nicht unerhebliche finanzielle Mittel erforderlich.“ Die Ertüchtigungsmaßnahmen dürften einige Zeit in Anspruch nehmen. „Momentan ist es jedoch nicht vorstellbar, dass dies bei laufendem Spielbetrieb möglich sein könnte“, sagt er.
Warum werden nicht einfach zusätzliche Pfeiler eingebaut?
„Vorerst hat das rein statische Gründe“, sagt Ulrich. „Eine zusätzliche Unterstützung in Feldmitte verändert das statische System des Tribünenträgers, wofür er nicht mit der erforderlichen Bewehrung ausgestattet ist. Vorausgesetzt, das wäre eine Variante, dann wäre die Ertüchtigung bautechnologisch sehr aufwendig.“ Auch die Mehrzahl der Sanitärgebäude müsste sehr wahrscheinlich weichen und anderenorts errichtet werden.
An der Südtribüne in Dortmund wurden 2011 dagegen relativ schnell zusätzliche Stützkonstruktionen eingesetzt.
Gibt es noch Garantie auf das Stadion? Kann jemand für mögliche Kosten von Nachrüstungen haftbar gemacht werden?
Nein, die Garantie- und Gewährleistungsfristen sind abgelaufen. „Jedoch handelt es sich hier nicht um mögliche Garantieleistungen, da das Stadionbauwerk normgerecht errichtet worden ist“, sagt Ulrich. Er bleibt dabei, dass das synchrone Hüpfen „ein relativ neues Phänomen“ sei und es zur Zeit der Stadionplanung keinen Grund gegeben habe, die Vorgaben „weiter zu überhöhen“.
Würde man heute ein Stadion anders bauen?
Mit heutigem Wissen wohl ja. Dennoch gelten nach wie vor die Normen „wie zur Zeit der Planung des Stadions“ in Magdeburg, wie Ulrich sagt. Er warnt: Bei schärferen Standards würden auch die Baukosten steigen. Für das Magdeburger Stadion waren rund 31 Millionen Euro fällig.