Wolfsland Hilflose Schäfer, radikale Jäger
Wolfsangriffe haben in Sachsen-Anhalt ein nicht gekanntes Niveau erreicht. 2016 töteten die Räuber 135 Nutztiere. Ein Beispiel aus Uthmöden.
Magdeburg l Sie kamen im Schutz der Dunkelheit. Hungrig, lautlos, unbemerkt. Lange hatten die Wölfe die Lämmer beobachtet, gelauert, sich herangetastet. Schließlich sprangen sie einfach über den 1,20 Meter hohen Elektrozaun.
Als Torsten Kruse am Morgen des 3. Januar auf seine Weide kommt, bietet sich ihm ein Bild des Grauens. 10 seiner 170 Lämmer sind tot. 8 weitere ringen teils übel zugerichtet ums Überleben. Leiber sind aufgerissen. Innereien liegen neben bebenden Körpern. Mehrere Tiere müssen Kruse und sein Sohn Christian in den folgenden Stunden einschläfern. Auch bei den übrigen Tieren hinterlässt die Attacke Spuren. Die Schafe sind verängstigt, wollen kaum noch fressen. Der Schaden ist immens. Nur wenige Tage später sollten die Tiere verkauft werden.
Für den Schäferbetrieb in Uthmöden am Rande der Colbitz-Letzlinger Heide ist es bereits die fünfte Attacke seit März 2016. Erst im Dezember hatten die grauen Jäger das letzte Mal zugeschlagen. „So schlimm wie diesmal war es aber noch nie“, sagt Kruse. Dabei habe er die Lämmer extra 200 Meter nah an den Ort geholt.
Doch die Heide ist inzwischen Wolfsland, die schlauen Räuber lassen sich von Schutzzäunen und Siedlungen immer weniger beeindrucken. Helfen können hätten vielleicht noch seine kaukasischen Schutzhunde, räumt der Schäfer ein. Doch die Hunde standen bei den Herden der wertvolleren Mutterschafe. Einen Junghund wollte Kruse nicht noch einmal allein einsetzen. Erst im November war ein unerfahrenes Tier bei einem Angriff von panischen Schafen totgetrampelt worden.
Zwar greift das Land den Hirten unter die Arme: Ihre Elektrozäune wurden gefördert. Und auch für die getöteten Schafe können die Kruses auf Entschädigung hoffen. Doch es ist nicht nur das Geld. „Wir können nachts nicht mehr schlafen“, sagt Kruse. Die wiederholten Attacken, sie haben auch bei dem Schäfer tiefe Spuren hinterlassen.
Die Kruses sind kein Einzelfall. Die Zahl der tödlichen Wolfsangriffe auf Nutztiere in Sachsen-Anhalt hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Von 40 Tieren im Jahr 2014 stieg sie auf 75 ein Jahr darauf. 2016 waren es bereits 135, darunter allein 85 Schafe (siehe Grafik).
Ausschläge lassen dabei zwar nicht immer auf übermäßig viele Attacken schließen. Auch ein einzelner Angriff kann hinter vielen getöteten Tieren stecken. Die Attacken stehen dennoch zumindest indirekt in Zusammenhang mit der wachsenden Zahl von Wölfen im Land. Ausgehend von zwei Tieren auf dem Truppenübungsplatz Altengrabow im Jahr 2009 ist die Population seit 2013 rapide gewachsen. 2016 zählte das für die Bestandsbeobachtung (Monitoring) zuständige Landesamt für Umweltschutz bereits 12 Rudel und ein Wolfspaar, insgesamt 78 Tiere.
Die Suche nach Futter lässt die Wölfe dabei immer häufiger auch die Nähe von Siedlungen suchen. In Genthin streifte vergangene Woche ein Wolf unbehelligt durchs Gewerbegebiet, näherte sich Arbeitern bis auf wenige Meter.
In einem ähnlichen Fall gab Niedersachsen im April 2016 Problemwolf „Kurti“ zum Abschuss frei. Erst am Freitag kündigte auch Sachsen die „Entnahme“ eines zahmen Wolfes bei Görlitz an. „Pumpak“ war wochenlang immer wieder durch Dörfer gestreift.
Dieses Schicksal droht dem Wolf bei Genthin zwar nicht. Das Verhalten des Tieres lasse nicht auf einen Problemwolf schließen, teilte das Umweltministerium mit. Die zunehmenden Präsenz des Wolfes hat die ohnehin schwelende Debatte über dessen Status dennoch neu entfacht. Nicht allen ist dabei noch nach Besonnenheit zumute. Die CDU-Landtagsfraktion in Magdeburg will den grauen Jägern nun ans Fell:
„Der Wolf gehört ins Jagdrecht“, sagte der umweltpolitische Sprecher Detlef Radtke. Nach einer „explosionsartigen Vermehrung“ hätten die Menschen in manchen Regionen inzwischen Angst, in den Wald zu gehen. Die Fraktion will das Thema deshalb auf die Tagesordnung der nächsten Landtagssitzung heben.
Dem Landesjagdverband geht die Aufnahme ins Jagdrecht nicht weit genug. Denn damit würde automatisch eine ganzjährige Schonzeit gelten.
„Wir müssen darüber reden, wie viele Wölfe das Land verträgt“, sagte Präsident Hans-Heinrich Jordan. Seiner Ansicht nach ist der Bestand, der eine Bejagung rechtfertigt, bereits erreicht. Jordan rüttelt an Grundfesten: Das Problem werde nur gelöst, wenn der Wolf seinen durch europäische Richtlinien geregelten Schutzstatus verliere, sagte er.
CDU und Jäger springen auf einen Zug auf, den Anfang Januar Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) ins Rollen gebracht hatte. Schmidt hatte in der „Passauer Neuen Presse“ eine Obergrenze für den Wolfsbestand gefordert und sich für einen beschränkten Abschuss ausgesprochen.
Doch längst nicht alle sehen im Wolf den blutrünstigern Räuber. Die schlauen Tiere haben auch mächtige Fürsprecher. So lehnte Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) erst am Montagabend in der ARD-Sendung „Hart, aber fair“ Forderungen ihres Parteigenossen Till Backhaus, Umweltminister in Mecklenburg-Vorpommern, nach einer Obergrenze ab und warb stattdessen für die Akzeptanz des Wolfes. Ähnlich sieht das Sachsen-Anhalts Umweltministerin Claudia Dalbert: „Der Schutz des Wolfes ist klar definiert. Ich halte das für gut und richtig“, betonte sie.
Valentin Burghard von der Grünen Jugend warf der CDU-Landtagsfraktion eine Dämonisierung des Wolfes vor und forderte statt des Schürens von Ängsten die Aufklärungsarbeit zu verbessern.
Annette Leipelt, Geschäftsführerin beim Landesverband des Naturschutzbundes (Nabu), kritisierte die Haltung der Jäger scharf: „Sie haben sich 2014 in einer Vereinbarung mit dem Umweltministerium verpflichtet zur Akzeptanz des Wolfes beizutragen“, sagte sie. „Faktisch tun sie heute das Gegenteil.“
Unabhängig von der Debatte warnt Sachsen-Anhalts Wolfsbeauftragter Andreas Berbig vor Folgen einer möglichen Bejagung. Schössen Jäger Altwölfe ab, blieben häufig Jungtiere zurück. Durch ihre Unerfahrenheit könnten sie unter Umständen wesentlich größere Schäden anrichten als intakte Rudel. Auch die in der Volksstimme zuletzt von Bauernverbands-Präsident Olaf Feuerborn geäußerte Idee, Wölfe in Schutzgebiete zu verweisen, funktioniere nicht. „In einer Nacht legen die Tiere locker 50 Kilometer zurück“, sagte Berbig. Ein Einsperren widerspräche zudem den Schutzvorgaben für den Wolf. „Das wäre dann eher ein Zoo als die Natur.“
Jagdrecht hin, Obergrenze her. Die Landesregierung setzt auf Strategien, die sich an den geltenden Gesetzen orientieren. „Nicht überall ist es um die Akzeptanz des Wolfes gut bestellt“, sagte Umweltministerin Dalbert. Die Ministerin kündigte deshalb Verbesserungen beim Wolfsmanagement an, die sie in der kommenden Woche präsentieren will. Inhaltlich dürfte es um verbessserte Informationen und eine effektivere Hilfe für Tierhalter gehen. Die Einrichtung eines Wolfskompetenzzentrums hatte die Landesregierung bereits vergangene Woche angekündigt. Statt nur eines Wolfsbeauftragten soll es künftig mehrere Ansprechpartner geben.
Annette Leipelt vom Nabu begrüßt die Schritte. Ziel sollte es sein, Tierhalter so zu unterstützen, dass sie Lasten zur Sicherung ihrer Bestände nicht im Wesentlichen alleine tragen. Dazu gehört für Leipelt aber auch Unterstützung bei der Anschaffung von Herdenschutzhunden. Denn anders als in Sachsen, Brandenburg oder Niedersachsen gebe es solche Hilfen hierzulande nicht.
Der Bauernverband und die Schaf- und Ziegenzüchter haben Landtagsabgeordnete und Minister derweil für den 1. Februar zum Schäferstammtisch nach Niederndodeleben eingeladen. „Dort sollen sie Farbe bekennen“, sagt Karl-Heinz Eggert, Vorsitzender des Schafzüchterverbands. Die Politiker dürften sich auf unbequeme Fragen einstellen.