Zugunglück Vor 20 Jahren: Giftwolke bedroht Schönebeck
Vor 20 Jahren entgleisten in Schönebeck Kesselwagen mit brennbarem Vinylchlorid. Der Unfall gilt als eine der schlimmsten Havarien.
Schönebeck l Blauer Himmel, 23 Grad Celsius, die Sonne scheint. Der 1. Juni 1996 ist ein herrlicher Sommertag in Schönebeck an der Elbe. Vielerorts finden anlässlich des Weltkindertags Familienfeste statt. Harald und Renate Rische verbringen den Sonnabend in ihrem Schrebergarten in der Kleingartenanlage Grüne Hoffnung I. Mit dabei: Tochter Silvana, deren Mann und die vierjährige Enkeltochter. Während der 55-Jährige den Tisch deckt, bereitet seine Frau den Salat für das Abendessen vor. Alle paar Minuten rattert ein Zug fünf Meter entfernt vorüber. Der Garten der Risches liegt an der Bahntrasse. An den Lärm hat sich das Paar längst gewöhnt.
Um 17.30 Uhr – die Familie hat gerade am Tisch Platz genommen – plötzlich ein ohrenbetäubender Knall. Rische versucht, durch die Hecke hindurch etwas zu erkennen. „Was war das?“, ruft seine Frau. Dann, erinnert sich Harald Rische, kann er auch schon die Druckwelle spüren. „Es wurde plötzlich ganz heiß“, erinnert sich der heute 75-Jährige. Schon erblickt er in der Richtung, aus der der Knall gekommen war, die Feuerwalze. „Etwa 40 Meter entfernt.“ In rasendem Tempo breitet sie sich über die Kleingärten in Richtung ihres Gartens aus. „Lauft“, ruft er. Die Familie eilt zum Hinterausgang der Anlage. Andere Kleingärtner rennen ebenfalls. Als Harald Rische sich umdreht, sieht er dichten schwarzen Rauch aufsteigen. „Es sah aus wie ein Atompilz“, sagt er. Am Morgen des 1. Juni war der Zug vom Industriepark Schoonhees West im belgischen Tessenderlo gestartet. Das Chemieunternehmen „Limburgse Vinyl Maatschappij“ hat sich auf die Herstellung von Vinylchlorid (VC) spezialisiert. VC ist ein brennbares Gas und wird als Grundstoff bei der Herstellung des Kunststoffs Polyvinylchlorid (PVC) verwendet. 18 Kesselwagen gefüllt mit VC setzen sich in Bewegung.
Als der Zug auf seinem Weg zur Olefinverbund GmbH in Schkopau die 39 000-Einwohner-Stadt Schönebeck passiert, nimmt bei einem Gleiswechsel – 500 Meter hinter dem Bahnhof – das Unglück seinen Lauf. Der sechste Kesselwagen kommt ins Schlingern und entgleist. Ein Drahtgestell am hinteren Teil des Wagens reißt ab. Dadurch werden die hinten laufenden Kesselwagen abgetrennt, drei Wagen entgleisen, einer rammt einen Fahrleitungsmast. Ein weiterer Wagen steigt so weit in die Höhe, dass er die Oberleitung berührt. Es folgt eine Explosion. Die Lokomotive und die sechs vorn laufenden Wagen kommen erst 400 Meter hinter der Unglücksstelle aufgrund der gerissenen Bremsleitung zum Stehen – neben Harald Risches Garten. Im Zentrum der Elbestadt erhebt sich unterdessen bereits eine gigantische schwarze Rauchsäule.
Wochen später wird das Eisenbahn-Bundesamt in seinem Bericht davon sprechen, dass ein Funke an der beschädigten Oberleitung die Explosion herbeigeführt habe. Das Vinylchlorid in vier Wagen sei dadurch in Flammen aufgegangen.
Die Risches sind in diesen Minuten des Schreckens auf dem Weg zu ihrem Auto. „Wir mussten uns durch die Schaulustigen kämpfen. Den meisten war wohl egal, was da brennt“, erzählt der Rentner heute. Sie fahren nach Barby, in die Wohnung der Tochter. „Wir hatten einfach nur Angst“, sagt Rische.
Die Schönebecker Feuerwehr und weitere Wehren aus dem Kreis treffen nach und nach am Unfallort ein. Ratlosigkeit. Was brennt da? Einige Kameraden bahnen sich den Weg an die Unglücksstelle, wo rund um die pechschwarze Rauchsäule Flammen lodern. Die Feuerwehrleute sehen die Hand vor Augen kaum.
Bei der Verbrennung von Vinylchlorid entstehen giftige Gase. Chlorwasserstoff, Dioxine. Im Rückblick wird man darüber spekulieren, ob die Brandgase den besonders exponierten Feuerwehrmännern geschadet haben. Viele von ihnen berichten noch Wochen später von Kopfschmerzen.
Die größte Gefahr geht am Tag der Katastrophe vom Kohlenmonoxid aus. Die meisten der Anwohner klagen nach dem Unfall über gereizte Schleimhäute. Viele müssen zur Kontrolle ins Krankenhaus Schönebeck. Im Rückblick wird man sagen, es grenzte an ein Wunder, dass niemand ernsthaft verletzt wurde.
Die Feuerwehrleute an der Unglücksstelle haben die Gefahrguttafel an einem der unversehrten Wagen indes entziffert: Vinylchlorid. Ob die brennenden Kessel mit dem identischen Stoff gefüllt sind, ist zunächst unklar. Unfalltrümmer, dichter Rauch, lodernde Feuer – eine nie dagewesene Belastungsprobe für die Feuerwehren. Es ist nicht sicher, wie die Kesselwagen gelöscht werden können. Zunächst werden sie ausschließ lich mit Wasser gekühlt. Die richtige Entscheidung.
Eine Stunde später schafft ein Hubschrauber Abhilfe im Chaos. Die Einsatzkräfte entdecken die von den havarierten Kesselwagen abgetrennte Lok inklusive sechs weiterer Wagen. Jetzt taucht auch der Frachtbrief auf. Klar ist nun: alle Kessel sind mit VC gefüllt.
Harald Rische sitzt zu diesem Zeitpunkt gebannt zu Hause am Radio. Die Berichterstattung kommt schleppend in Gang. Er weiß nicht, ob er in seinen Garten zurückkehren kann. „Ich konnte mir schon denken, dass da giftiges Material brennt. Informationen sickerten nur spärlich durch.“
Ebenfalls über das Radio, eher aus Zufall, erfährt die BASF-Werksfeuerwehr in Ludwigshafen von dem Unglück. Die Wehr ist für den Brand- und Gefahrenschutz auf dem Areal der BASF-Gruppe zuständig. Ihr Spezialgebiet: Gefahrenstoffe. Doch Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) ist fünf Autostunden entfernt. Bevor die Experten ausrücken, beordern sie zwei Spezialisten aus dem Werk einer BASF-Tochter in Schwarzheide (südliches Brandenburg) an den Unglücksort.
Die Wehren kämpfen währenddessen fieberhaft gegen die Flammen, die aus den Kesseln schlagen und sich durch den Wind auf die Kleingärten ausgedehnt haben. Die Polizei sperrt umliegende Straßen. Überall Schaulustige. „Was brennt da?“, fragen sie. Vor Mitternacht erreicht die Werksfeuerwehr die Unfallstelle. Es dauert bis in die Morgenstunden, bis die Feuer an den Kesselwagen unter Kontrolle sind. Erst nach weiteren zwei Wochen wird der letzte Kessel entgast, umgefüllt oder mit Wasser gefüllt sein. Einige beschädigte Wagen werden zwischenzeitlich auf Gleisen in Schönebeck und Calbe/Ost geparkt. Anwohner sind verunsichert, ob von ihnen eine Gefahr ausgeht.
Die ausgebrannten Wagen werden abtransportiert. Am 24. Juni wird der umgeleitete Bahnverkehr zwischen Magdeburg und Halle (Saale) wieder allmählich in Gang kommen. In den Tagen nach dem Unglück beginnt in Schönebeck die Verunsicherung. Die Böden seien verseucht, die Dämpfe krebserregend. Beim Gesundheitsamt in Schönebeck können Urinproben abgegeben werden. VC wird bei vielen nachgewiesen. Allerdings in unschädlichen Dosen.
Harald Rische ist am Morgen nach dem Unglück zurück im Garten. Auf den Gleisen neben seinem Garten ist die Lok zum Stehen gekommen. Die Oberleitung ist heruntergerissen. Unzählige Bäume und Sträucher sind verbrannt. In eine andere Kleingartenanlage hat die Feuerwalze eine lange Schneise geschlagen. „Die Rettungskräfte liefen herum und haben uns informiert. Von offizieller Stelle hat man erstmal wenig erfahren“, erinnert sich der Rentner. Er entsinnt sich, dass Bodenproben genommen wurden. In den Kleingärten wird die Benutzung des Brunnenwassers aus Sicherheitsgründen untersagt. Vom Verzehr von Früchten rät die Umweltbehörde ab.
In den vom Landesamt für Umweltschutz durchgeführten Bodenuntersuchungen vom 4. Juni wird festgestellt, dass „keine unmittelbare Gefahr für Mensch und Umwelt durch den Eintrag von Dioxinen und Furanen besteht“. Nicht jeder glaubt das.
Viele Kleingartenbesitzer werden später von der Deutschen Bahn Entschädigungen erhalten. Eine Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, sagt, sie habe einen höheren vierstelligen D-Mark-Betrag bekommen. Kleingärtner, Anwohner, Vertreter einer Bürgerinitiative und Greenpeace-Mitarbeiter - viele bemängeln die schlechte Informationspolitik. Vertreter des Innenministeriums des Landes Sachsen-Anhalt geben sich lange zugeknöpft.
Ein abgefallener Radkranz sei der Auslöser für das Unglück gewesen, lautet eine erste Annahme der Staatsanwaltschaft. Erst ein Jahr nach dem Unglück geht das Eisenbahn-Bundesamt mit den Gründen für den Unfall an die Öffentlichkeit. Fehlende Schwallbleche hätten zur Havarie geführt. Beim Durchfahren der Weichen hätte sich die Flüssigkeit in den Kesselwagen aufgeschaukelt. Dies habe zum Entgleisen geführt.
1998 stellt die Staatsanwaltschaft Magdeburg das Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt ein. Dabei wird dem Papier des Bundesamtes nur eingeschränkt Rechnung getragen: Der Verschleißzustand einer Weiche habe im Zusammenspiel mit „ungünstigen“ Vorgängen im sechsten Wagen zum Entgleisen geführt. In Schönebeck schütteln heute viele Menschen den Kopf darüber, dass kein Verantwortlicher benannt werden konnte. Hätte eine verschlissene Weiche und die Spurerweiterung nicht vorher auffallen müssen? Herbert Rische fragt sich, ob jemand für die festgestellten Mängel an den Kesselwagen zur Verantwortung gezogen wurde.
An der Unglücksstelle vom 1. Juni 1996 erinnert wenig an die schwarze Rauchsäule und den Unfall, der bis heute als eine der größten Katastrophen mit Gefahrgut auf deutschem Boden gilt. Die besonders betroffenen Kleingärten sind abgezäunt und zugewuchert.
Die Risches sind heute Rentner – und im Sommer jeden Tag im Garten. „Wir sind noch einmal davongekommen“, sagt Harald Rische und legt die Stirn in Falten. Er wisse, dass noch immer etliche gefährliche Güter auf dem Gleis transportiert werden – auch auf den Schienen, die an seinem Garten entlangführen. Gerade fährt ein Regionalexpress vorbei. Rische nickt seiner Frau zu. Seine Gesichtszüge entspannen sich. „So einen Unfall wie damals“, sagt er, „den erlebt man nur einmal im Leben.“