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Hatte Marx doch recht? Vor 150 Jahren erschien "Das Kapital"

Die Kapitalismuskritik feiert Geburtstag: Vor 150 Jahren erschien "Das Kapital" von Karl Marx. Nach dem Mauerfall mal als erledigt betrachtet, erleben das Buch und sein Autor seit der Finanzkrise eine bemerkenswerte Renaissance.

Von Christoph Driessen, dpa 13.09.2017, 19:00

Berlin (dpa) - Eines Morgens taucht der Bäcker vor der Wohnung von Karl Marx auf, um ihm unmissverständlich klar zu machen: Wenn jetzt nicht endlich Geld auf den Tisch kommt, gibt's kein Brot mehr! Der sechsjährige Edgar Marx öffnet ihm.

"Ist Mister Marx zuhause?" - "Nö", lügt der Junge - dann packt er sich blitzschnell drei Brötchen und haut ab.

"Ich glaube nicht, dass unter solchem Geldmangel je über 'das Geld' geschrieben worden ist", scherzte Marx grimmig. Tagein, tagaus hockte der deutsche Philosoph im Lesesaal der British Library in London und recherchierte für sein Buch - die "ökonomische Scheiße", wie er es selbst nannte. Mitunter hatte er eine monatelange Schreibblockade, mal wegen eines Leberleidens, dann wegen eines Penis-Geschwürs, das er seinem Geldgeber und "best buddy" Friedrich Engels ausführlich beschrieb. "Nunja", reagierte der, "wir sind so an diese Entschuldigungen für die Nichtvollendung des Werks gewöhnt!"

Schließlich, nach mehr als zehnjähriger Arbeit, war es 1867 doch soweit - "Das Kapital" war fertig oder genauer gesagt: der erste Band. "Hurra!", jubelte Engels. In einer dramatischen Überfahrt bei Sturm brachte Marx das Manuskript selbst nach Hamburg zu seinem Verlag Meissner. Am 14. September erschien es dort - und nichts passierte. Marx war wahnsinnig enttäuscht. Er hatte fest daran geglaubt, mit dem "Saubuch" berühmt zu werden. Was die finanziellen Erträge betraf, hatte er sich dagegen nie Illusionen gemacht: "Das 'Kapital' wird mir nicht einmal so viel einbringen, als mich die Zigarren gekostet, die ich beim Schreiben geraucht." Wobei man wissen muss, dass er paffte wie ein Schlot.

Seinen großen Durchbruch hat der 1883 gestorbene Marx nicht mehr erlebt. Band 2 und 3 des "Kapitals" wurden erst nach seinem Tod von Engels herausgegeben. Im Rückblick von 150 Jahren lässt sich sagen, dass es nach der Bibel nur wenige Bücher gegeben hat, die die Weltgeschichte so nachhaltig beeinflusst haben. Lenin, Stalin, Mao, Che Guevara und Fidel Castro - sie alle beriefen sich darauf. Marx war ihr Guru, das "Kapital" ihre Heilige Schrift.

Noch heute bezeichnet sich das bevölkerungsstärkste Land auf Erden, die Volksrepublik China, als kommunistischen Staat. Der große Spötter Marx hätte dazu sicher eine passende Bemerkung parat. Gegen eine Vereinnahmung durch andere hat er sich stets gewehrt. Als er einmal erfuhr, dass sich eine neue Partei in Frankreich als marxistisch bezeichnete, erwiderte er: "Was mich betrifft, ich bin kein Marxist!" 

Wie hoch die Gesamtauflage des "Kapitals" inzwischen ist, weiß niemand. Berühmt waren die blauen Ausgaben zu DDR-Zeiten. Im Westen versuchten die 68er in sogenannten "Kapital"-Schulungen, sich die Offenbarungen des sozialistischen Cheftheoretikers zu erschließen. Die wenigsten schafften es, sich wirklich durch den ganzen Wälzer zu arbeiten. So gab der britische Premierminister Harold Wilson (1916-1995), immerhin ein Labour-Politiker, unumwunden zu: "Ich bin nur bis Seite zwei gekommen."

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks hielt man Marx zunächst für erledigt. Das "Ende der Geschichte" wurde ausgerufen, jetzt sollte nur noch Kapitalismus sein bis zum Ende der Zeiten. Aber spätestens mit dem drohenden Bankenkollaps von 2008 erlebte Marx eine Renaissance. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise war das "Kapital" sogar kurzzeitig vergriffen. Als Krisentheoretiker und Kritiker des freien Marktes ist Marx seitdem wieder gefragt. Der heutige Labour-Chef Jeremy Corbyn würdigt ihn als "großen Ökonomen" - ein solches Bekenntnis wäre auf der Insel früher politischer Selbstmord gewesen.

Marx' provokanteste These ist, dass der Kapitalismus früher oder später an sich selbst zugrunde geht. Dies war für ihn ein "Naturgesetz". Seine Argumentation geht ungefähr so: Die Unternehmer befinden sich in einem fortwährenden mörderischen Konkurrenzkampf gegeneinander und müssen ihre Waren deshalb immer billiger herstellen. Mit der Zeit gehen mehr und mehr Wettbewerber pleite, übrig bleiben wenige, aber dafür riesengroße Konzerne. Gleichzeitig wächst das Heer der schlecht bezahlten oder arbeitslosen Proletarier. Irgendwann kippt das - die Revolution bricht aus, der Kommunismus ist da.

Marx rechnete damit, dass dies in den hoch entwickelten Industrieländern seiner Zeit - das waren vor allem Großbritannien und auf dem Kontinent das kleine Belgien - bald bevorstand. In noch weitgehend feudal geprägten Agrargesellschaften wie Russland war die Zeit seines Erachtens noch lange nicht reif für einen Umsturz: Solche Länder mussten erst einmal industrialisiert werden.

Bekanntlich ist es dann doch alles etwas anders gekommen. Ironie der Geschichte: In Marx' ehemaligem Wohnhaus in Trier befindet sich heute ein Ein-Euro-Shop. In der Stadt war Marx am 5. Mai 1818 geboren worden, hier verbrachte er die ersten 17 Jahre seines Lebens. Und das Proletariat? "Man sehe sich die Arbeiter mit ihren Autos und Mikrowellen doch an - besonders verelendet sehen sie nicht aus", spottete der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Samuelson (1915-2009). Die vermeintlichen Todeszuckungen des Kapitalismus, die Marx zu analysieren glaubte, seien wohl eher dessen Geburtswehen gewesen, höhnen Kritiker. 

Ist deshalb aber alles falsch, was der Super-Intellektuelle mit dem Prophetenbart auf Tausenden von Seiten ausgebreitet hat? "Mitnichten" - sagt niemand anderer als der langjährige Chef des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn. Vor allem seine Krisentheorien seien heute wieder "hochaktuell". 

Ähnlich sieht es Gerald Hubmann, Arbeitsstellenleiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: Marx habe aktuelle Krisentheorien vorweggenommen, "ebenso wie Marx ja bereits die Banken im Blick hatte und das Phänomen der Privatisierung der Gewinne bei Sozialisierung der Verluste zu Krisenzeiten". Die Fragilität der heutigen Finanzwirtschaft habe allerdings selbst Marx nicht voraussehen können.

Zutreffend war in jedem Fall seine Prognose, wonach der Kapitalismus zur Konzentration neigt, zur Herausbildung einiger weniger weltumspannender Unternehmen. "Marx hat ganz sicher die Globalisierung nicht nur vorausgesehen, sondern in ihren Triebkräften und Wechselwirkungen bereits analysiert", meint Hubmann. Bereits im "Kommunistischen Manifest" von 1848 heißt es: "Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen...".

Die von Marx angestrebte Verstaatlichung der Produktionsmittel sei gerade in der heutigen Weltwirtschaft jedoch kaum möglich, urteilt Theocharis Grigoriadis, Spezialist für Volkswirtschaftslehre Osteuropas an der Freien Universität Berlin: "Sie könnte zu großen Erschütterungen führen."

Marx war übrigens alles andere als ein Dogmatiker. Bis zuletzt hat er auch den schon erschienenen ersten Band des "Kapitals" immer wieder umgeschrieben. An den heutigen Debatten hätte er sich sicher beteiligt - leidenschaftlich, witzig und polemisch, so wie es seine Art war. Und immer mit einer Zigarre in der einen und einem guten Glas Moselwein in der anderen Hand.

Eine originale Erstausgabe von «Das Kapital» von Karl Marx. Foto: Georg Wendt
Eine originale Erstausgabe von «Das Kapital» von Karl Marx. Foto: Georg Wendt
dpa
Ironie der Geschichte: In Marx' ehemaligem Wohnhaus in Trier befindet sich heute ein Ein-Euro-Shop. Foto: Christoph Driessen
Ironie der Geschichte: In Marx' ehemaligem Wohnhaus in Trier befindet sich heute ein Ein-Euro-Shop. Foto: Christoph Driessen
dpa