Heute vor 60 Jahren ist die sächsische Industriestadt in einem Willkürakt umbenannt worden - obwohl Karl Marx sie nie besucht hat Angst vor Protesten: Statt Leipzig wurde Chemnitz zu Karl-Marx-Stadt
Fast vier Jahrzehnte hat die Stadt seinen Namen getragen. Der kommunistische Vordenker Karl Marx (1818-1883) hat sie aber nie besucht. Auf dem Weg zu Kuraufenthalten in das böhmische Karlsbad fuhr er mit dem Zug nur an Chemnitz vorbei. Dennoch beschloss die DDR-Regierung im Frühjahr 1953, die Stadt in Karl-Marx-Stadt umzubenennen.
Zuvor hieß sie mehr als 800 Jahre lang Kameniz oder Chemnitz. Doch die Staatsführung der jungen DDR hatte das Jahr 1953 zum Karl-Marx-Jahr erklärt und die sächsische Industriearbeiterstadt Chemnitz war gerade Sitz eines DDR-Bezirks geworden. Da passte eine Namensveränderung gut ins SED-Programm.
Allerdings sollten zunächst Eisenhüttenstadt oder Leipzig in Karl-Marx-Stadt umbenannt werden. Erstere wurde 1953 dann aber zu Stalinstadt und der Messeplatz Leipzig war international zu bekannt. Man fürchtete Proteste.
So war es für Chemnitz dann vor 60 Jahren unausweichlich: Am 10. Mai, einem Sonntag, nur fünf Tage nach der öffentlichen Bekanntgabe des SED-Beschlusses erhielt die sächsische Stadt einen neuen Namen. Die Chemnitzer wurden über Nacht zu Karl-Marx-Städtern. Gefragt hatte sie keiner.
Dennoch seien zur offiziellen Zeremonie Zehntausende Menschen ins Stadtzentrum gekommen, wo der damalige Ministerpräsident Otto Grotewohl die Umtaufe persönlich vornahm, berichtet die Leiterin des Chemnitzer Stadtarchivs, Gabriele Viertel.
Grotewohl erklärte beim Willkürakt den bisherigen Chemnitzern, dass sie nach vorne in eine bessere Zukunft, "auf den Sozialismus" schauen könnten. Auch sei er überzeugt, dass sie dem "größten Sohn des deutschen Volkes", Karl Marx, "mit Liebe und Verehrung" begegneten.
Dabei gab es durchaus Kritiker der Umbenennung. Vor allem die alteingesessenen Chemnitzer hätten sich an "Karl-Marx-Stadt" nie gewöhnt, erzählen Zeitzeugen. Um den ungewollten Namen nicht aussprechen zu müssen, sprachen sie nur noch von "Kams" (Abkürzung mit den Anfangsbuchstaben von Karl-Marx-Stadt).
Dafür kannte die Propaganda für die "neue" Stadt kaum Grenzen und so sangen die Thälmann-Pioniere so skurrile Liedzeilen: "Was machen wir zu Pfingsten, wenn die Wiesenblumen blühn / Wir fahren nach Karl-Marx-Stadt über Autobahn und Schien\'..." Und im gleichen Lied wird Karl-Marx-Stadt bezeichnet als "eine Stadt, die von Marx ihren Namen und ihr neues Leben hat."
Doch neues Leben musste erst Einzug halten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war vom historischen Chemnitz nicht mehr viel übrig. Denkmäler wie Kirchen, öffentliche Gebäude und Wohnhäuser in der Innenstadt waren bei den Luftangriffen 1945 beinahe vollständig zerstört worden. Beim Wiederaufbau wurde das Zentrum nach sozialistischen Ideen gestaltet. Manche Straßenzüge verschwanden völlig.
Noch immer steht die Stadt mit drei "O" (sächsisch: "Gorl-Morx-Stodt") bei einigen Bundesbürgern im Ausweis. Und zwar bei allen, die nach dem 10. Mai 1953 und vor dem 1. Juni 1990 in der Industriestadt geboren sind. Nach dem Sturz des DDR-Regimes sprachen sich bei einer Volksabstimmung 76 Prozent für den alten Stadtnamen aus. Schon während der friedlichen Revolution im Oktober 1989 hatten sich erste Forderungen geregt, zum historischen Stadtnamen zurückzukehren.
Doch Relikte bleiben und auch ohne Besuch hat Karl Marx seinen Platz in der Stadt gefunden. Sein Porträt, der riesige Marx-Kopf, ist längst zum Wahrzeichen geworden. Und so musste der "Nischl" (sächsisch für Kopf) - nicht vom Sockel. (epd)