Geisel-Freilassung Freude und Wut in Israel: Chaos bei Freilassung von Geiseln
Bei der Freilassung weiterer Geiseln im Gazastreifen kommt es zu wüsten Szenen. Bilder der Übergabe sorgen in Israel für Empörung – und lassen Zweifel an der Zukunft der Waffenruhe wachsen.
Tel Aviv/Gaza - Die Freilassung von acht weiteren Geiseln durch Islamisten im Gazastreifen, unter ihnen auch zwei Deutsch-Israelis, hat in Israel ein Wechselbad der Gefühle ausgelöst. Es herrschte große Freude über ihre Rückkehr nach 482 Tagen in Geiselhaft, aber auch Empörung über chaotische und beängstigende Szenen während ihrer Übergabe an das Rote Kreuz.
Geiseln durch aufgeheizte Menschenmenge geführt – Angst und Chaos
Der 80-jährige Gadi Moses und die 29-jährige Arbel Yehud sowie fünf Thailänder mussten in Chan Junis im Süden des Gazastreifens langsam durch eine aufgeheizte, dicht gedrängte Menschenmenge gehen. Auf Bildern ist der dabei von bewaffneten Islamisten begleiteten jungen Frau, die wie der 80-Jährige auch deutsche Staatsbürgerin ist, große Angst ins Gesicht geschrieben. Israelische Fernsehkommentatoren sprachen von einer „Via Dolorosa“, einem Kreuzweg Jesu, den die Geiseln durch die Menge auf dem Weg in die Freiheit passieren mussten. Die 20-jährige Soldatin Agam Berger, die als Erste in Dschabalija im Norden des Gazastreifen freigelassen worden war, musste vor ihrer Übergabe auf einer Bühne den Zuschauern zuwinken.
„Während die Szenen der Misshandlung und des Terrors gegenüber den Geiseln bei der Übergabe an das Rote Kreuz entsetzlich waren, sind wir zu Tränen gerührt über die Rückkehr von Agam Berger, Arbel Yehud und Gadi Moses aus der Geiselhaft, gemeinsam mit fünf thailändischen Zivilisten“, sagte der israelische Präsident Izchak Herzog. Ein Sprecher des israelischen Außenministeriums nannte die Umstände der Übergabe „unmenschlich“ und schrieb auf der Plattform X: „Dies ist der Feind, mit dem wir es zu tun haben.“
Israel reagiert mit Aufschub der Häftlingsfreilassung
Offenbar aus Verärgerung über die auch als demütigend wahrgenommenen Bilder aus dem Gazastreifen wies der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einen vorläufigen Stopp der geplanten Entlassung von 110 palästinensischen Häftlingen an. Nach Medienberichten saßen die Häftlinge schon in Bussen im Ofer-Gefängnis nahe Ramallah, als die Mitteilung über den Aufschub kam. Angehörige warteten schon an einem Platz in Ramallah, um ihre Rückkehr zu feiern. Anschließend hieß es, die Freilassung solle ein paar Stunden später erfolgen.
Am Samstag ist die Übergabe von drei weiteren Geiseln geplant. Israel fordert von den Unterhändlern Katar und Ägypten, sicherzustellen, dass es dabei nicht erneut zu bedrohlichem Chaos kommt.
Hamas demonstriert Stärke trotz Kriegsverlusten
In Israel werden die Bilder aus Chan Junis im Süden des Gazastreifens als Hinweis darauf gedeutet, dass die islamistische Hamas trotz der schweren Verwüstungen und massiven Verluste während des mehr als einjährigen Krieges in dem Küstenstreifen noch einen starken Rückhalt in der Zivilbevölkerung hat. Tausende Zuschauer drängten sich während der Übergabezeremonie, die in der Nähe des zerstörten Hauses des im Oktober getöteten Hamas-Chefs Jihia al-Sinwar stattfand. Viele schwenkten Flaggen in der grünen Farbe der Hamas.
Die Inszenierung der Übergabe neben Sinwars Haus soll wohl zeigen, dass die Kampfbereitschaft der Hamas trotz der verheerenden Angriffe Israels auf den Gazastreifen und des großen Leids der Zivilbevölkerung ungebrochen ist.
Nach einem früheren Konflikt zwischen Israel und der Hamas hatte Sinwar sich demonstrativ lächelnd in einem Sessel inmitten von Ruinen ablichten lassen. Das Bild gilt unter seinen Anhängern als ikonisch und Symbol des Widerstands gegen die Übermacht Israels.
Ungewisse Zukunft der Waffenruhe und der Geiseln
Die Bilder der seit Beginn der Waffenruhe wieder aufgetauchten vermummten und schwer bewaffneten Kämpfer der Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad sind aus israelischer Sicht unzumutbar. Das ehrgeizige Kriegsziel Israels von einem „totalen Sieg“ über die Hamas ist damit ad absurdum geführt.
Ein Zusammenbruch der Waffenruhe ist ebenfalls denkbar, weil eine Fortsetzung der Hamas-Herrschaft im Gazastreifen nach dem beispiellosen Massaker am 7. Oktober 2023 mit 1.200 Toten aus israelischer Sicht nicht hinnehmbar ist.
Beobachter rechnen damit, dass die zweite Stufe der Drei-Phasen-Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas möglicherweise gar nicht erst umgesetzt wird. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steht auch unter starkem Druck rechtsextremer Koalitionspartner, den Krieg im Gazastreifen fortzusetzen.
Dies könnte allerdings das Schicksal der israelischen Geiseln - darunter viele junge Männer - besiegeln, die noch im Gazastreifen festgehalten werden und die erst in der zweiten Phase freikommen sollen. Bei den Angehörigen lösen die Bilder aus Gaza deshalb neue Gefühlsstürme aus - sie schwanken ohnehin täglich zwischen Hoffnung und Verzweiflung.