1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. Günter Verheugen: „Uns wurde nach 1945 die Hand gereicht“

Günter Verheugen „Uns wurde nach 1945 die Hand gereicht“

Ein Interview von Günter Verheugen mit dem „Weser-Kurier“ über den Ukraine-Krieg und die aktuelle Russland-Politik.

Von Uwe Kreißig Aktualisiert: 03.09.2023, 10:26
Der SPD-Politiker Günter Verheugen spricht im Jahr 2017 in der ARD-Polittalk-Sendung „Anne Will“.
Der SPD-Politiker Günter Verheugen spricht im Jahr 2017 in der ARD-Polittalk-Sendung „Anne Will“. Foto: Wolfgang Borrs/NDR/dpa

Verheugen hatte zuvor in der Zeitung „Weser-Kurier“ spektakuläre wie umstrittene Aussagen zum Ukraine-Krieg und dessen Vorgeschichte gemacht. Er verstehe den Krieg nicht als Konflikt zwischen Demokraten und Autokraten: „ Es geht nicht um Ihre oder meine Sicherheit. Wegen meiner Freiheit und zur Verteidigung meiner demokratischen Rechte muss kein Mensch in der Ukraine sterben. Meine Freiheit ist nicht durch Russland bedroht. Schon allein das zu sagen, bringt einen heute in den Verdacht, ein nützlicher Idiot des Kremls zu sein.“

Es bestehe kein Zweifel daran, dass Russland der Aggressor ist sowie Verträge und Grundsätze verletzt hat. „Aber man muss die Vorgeschichte dieses Kriegs kennen, um sich ein sachliches Urteil zu bilden“, so der Politiker, der 1982 von der FDP zur SPD gewechselt war. Verheugen zog dabei große historische Linien: „Statt einfach zu behaupten, der Zweite Weltkrieg sei allein auf einen Verrückten namens Hitler zurückzuführen, gibt es zu der Vorgeschichte eine Bibliothek mit Millionen Büchern. Das ist bei diesem Krieg nicht anders: Ein langer Weg hat dorthin geführt, wenn wir ihn nicht erkennen wollen, sind wir dazu verurteilt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.“

„Der Maidan war eine fabelhafte PR-Nummer, denn es ist nur ein Ausschnitt der Wahrheit.“

Die Folgen der „Maidan-Proteste“ von 2014, bei denen tatsächlich Fragen offen sind wie eine Querfinanzierung auch mit US-Geldern, will Verheugen in ein anderes Licht setzen: „Der Umsturz in der Ukraine wird bei uns dargestellt als eine demokratische Revolution von begeisterten Pro-Europäern. Das war eine fabelhafte PR-Nummer, denn es ist nur ein Ausschnitt der Wahrheit. Es war ein vorbereiteter Staatsstreich. Die ersten Maßnahmen der Übergangsregierung waren gegen die russischstämmige Bevölkerung in der Ukraine gerichtet.“ Damit habe Putins „Anti-Terror-Krieg“ begonnen. Die Annexion der Krim, die der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow ohne Beschluss in Partei und Regierung von der Russischen Sowjetrepublik an die Ukrainische Sowjetrepublik übertrug, habe Putin ins Unrecht gesetzt, was es für den Westen argumentativ leicht gemacht habe.

Kommentar zu Günter Verheugen: SPD-Mann mit AfD-Sprech

Verheugen kritisierte auch die Politik Kiews: „Die Waffen, die an die Ukraine geliefert werden, sind nie genug. Und ich frage mich, wohin das am Ende führen soll, wenn man es auf der anderen Seite mit einer Atommacht zu tun hat.“ Er habe aber nichts gegen eine Unterstützung der Ukraine und die Verteidigung ihrer territorialen Integrität, aber die Frage sei, wie der Krieg beendet werden könne und was danach komme.

„Wenn das politische Ziel des Westens ein sogenannter Siegfrieden ist, bei dem der Westen Russland die Friedensbedingungen diktieren kann, dann sage ich: Dieses Ziel ist nicht erreichbar“, meint Verheugen.

Warnung vor Träumereien wie einem Putin-Sturz

„Wenn das Ziel Regime Change heißt, einschließlich Putin loszuwerden, dann kann ich nur vor Träumereien warnen. Wenn das Ziel ist, Russland zu ruinieren, wie Annalena Baerbock es formulierte: Auch dieses Ziel ist nicht erreichbar. Wenn das Ziel ist, Russland zu isolieren: Auch das ist nicht geschehen.“ Er betrachte sich als Entspannungspolitiker in der Tradition von Willy Brandt (SPD).

Die Nichtumsetzung der Minsker Abkommens ist aus Sicht Verheugens eine Ursache für Putins Aggression: „Die Minsker Abkommen sollten eine Lösung für die inneren Konflikte in der Ukraine finden.“ Ihn mache betroffen, dass der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) diese Bemühungen inzwischen als Fehler ansieht. „Noch betroffener macht mich, dass Frau Merkel heute sagt, das sei alles nicht ernst gewesen. Denn das Minsk-2-Abkommen sollte die Rechte der russischen Minderheit sicherstellen. Zur vollen Wahrheit gehört, dass die Verantwortlichen in der Ukraine nicht einen Tag lang ernsthaft daran gedacht haben, die im Abkommen vorgesehen Maßnahmen umzusetzen.“

Nach der offenen fehlgeschlagenen Bodenoffensive der ukrainischen Armee droht nun eine neue Eskalationsstufe. „Es ist doch offensichtlich, dass die Ukraine verzweifelt versucht, dass das Engagement des Westens und der Nato die Grenze zur direkten Intervention überschreitet. Das hätte die direkte Auseinandersetzung der beiden Super-Atommächte zur Folge und wäre der Schritt in den Abgrund. “ Der Westen müsse jetzt seine ganze Kraft einsetzen, um Russland an den Verhandlungstisch zu bekommen.

Verheugen hatte im April dieses Jahres den Aufruf „Frieden schaffen! Waffenstillstand und Gemeinsame Sicherheit jetzt!“ mit zahlreichen Prominenten aus Politik und Gesellschaft unterzeichnet.

„Uns wurde nach 1945 auch wieder die Hand gereicht“

Verheugen hält dies für möglich und verweist auf die deutsche Vergangenheit: „Und wenn man in Deutschland sagt, dass man mit diesen Verbrechern doch nichts mehr zu tun haben kann, möchte ich in aller Bescheidenheit auf unsere Vergangenheit hinweisen wollen. Wir haben einen Krieg angefangen, der alle Maßstäbe gesprengt hat, trotzdem wurde uns nach 1945 wieder die Hand gereicht.“