Risikoabwägung Seltene Impfkomplikation als „schlafender Drache“
Zwei Vektorimpfstoffe, ein Problem: In seltenen Fällen erleiden mit Astrazeneca und Johnson & Johnson Geimpfte eine überschießende Immunreaktion. An welchen Punkten kann man sich orientieren, wenn man eine Impfung damit dennoch in Erwägung zieht?
Berlin
Für die seltenen schweren Impfnebenwirkungen im Zusammenhang mit den Präparaten von Astrazeneca und Johnson & Johnson kann Experten zufolge bisher keine genaue Risikogruppe und kein bestimmter Risikofaktor definiert werden.
Das sagte der Direktor des Mikrobiologischen Instituts am Universitätsklinikum Erlangen, Christian Bogdan, in einer Videoschalte des Science Media Center. Er ist Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko).
Eine mögliche Ausnahme könnten Menschen sein, die schon einmal eine ganz bestimmte Erkrankung (Heparininduzierte Thrombozytopenie) hatten, die Ähnlichkeiten mit der Impfkomplikation hat. Andere Risikofaktoren, die üblicherweise für Thrombosen genannt werden, seien kein begünstigender Faktor für die spezielle Impfnebenwirkung, sagte Bogdan. Für die Frage, ob man sich mit einem der Impfstoffe impfen lassen will, seien die individuelle Risikobereitschaft und das Covid-19-Erkrankungsrisiko je nach Alter und Vorerkrankung wichtig.
Am Montag war die Entscheidung bekannt geworden, dass die Stiko den Corona-Impfstoff von Johnson & Johnson wie den von Astrazeneca in der Regel für Menschen ab 60 empfiehlt. Die Impfstoffe können allerdings nach ärztlicher Aufklärung und bei „individueller Risikoakzeptanz“ weiter auch Jüngeren verabreicht werden. Eine Vorrangliste gibt es für beide Mittel nun nicht mehr. Die Komplikation endete teils tödlich. Zum Produkt von Johnson & Johnson, das hierzulande erst seit kurzem im Einsatz ist, waren Daten aus den USA für die Stiko maßgeblich.
Bei der beobachteten, seltenen Nebenwirkung handelt es sich um Blutgerinnsel an ungewöhnlichen Orten mit einem Mangel an Blutplättchen. Experten sprechen von Thrombosen mit Thrombozytopenie, kurz TTS. Den Mechanismus dieser Autoimmunerkrankung verglich Andreas Greinacher (Universitätsmedizin Greifswald), der zu der Komplikation forscht, mit einem schlafenden Drachen in einer Höhle, der aufgeweckt und geärgert werde. Durch die Impfung werde ein „evolutionär ziemlich altes Immunsystem“ zum Arbeiten angeregt. Dann laufe eine Immunreaktion „quasi auf Autopilot“, die starke Gerinnungsaktivierungen durchführe.
Aus Deutschland seien mittlerweile 59 von 67 Fällen untersucht worden, sagte Greinacher. Warum die Komplikation bei einem von 40.000 oder 50.000 Geimpften auftrete, sei noch unklar. Wahrscheinlich kämen beim Einzelnen mehrere seltene Faktoren zusammen.
Über die beobachtete Fallhäufung bei Frauen nach Impfungen mit Astrazeneca sagte der Experte: „Dieser deutliche Unterschied zwischen den Geschlechtern ist am Anfang nur der Spiegel gewesen, dass in unserem Gesundheitssystem vor allen Dingen Frauen arbeiten.“ Diese wurden zunächst vorrangig geimpft. Greinacher erklärte aber auch, es sei von nahezu allen Immun- und Autoimmunreaktionen bekannt, dass Frauen etwas mehr betroffen sind. Wenn man eine sehr starke Überzahl von Frauen in der geimpften Kohorte und ein „klein bisschen höheres Risiko“ zusammennehme, komme man schnell zu dem Eindruck, es seien vor allem Frauen betroffen.
Auch Ältere scheinen noch ein gewisses, aber wohl geringeres Risiko zu haben. Das Problem sei in Großbritannien und Kanada auch bei ihnen aufgetreten, sagte Greinacher. „Wir wissen aber grundsätzlich, dass das körpereigene Abwehrsystem bei älteren Menschen ein bisschen weniger funktionsfähig ist als bei jungen Menschen.“ Womöglich falle das Zusatzsignal für die Fehlleitung der Immunantwort bei ihnen etwas moderater aus. Das Risiko steige oder falle auch nicht dramatisch je nachdem, ob man 59 oder 61 Jahre alt sei. Der Übergang sei gleitend. Ältere hätten ein viel höheres Risiko für schwere Covid-19-Verläufe, so dass die Risiko-Nutzen-Abwägung bei ihnen anders ausfalle.
Auch nach der Zweitimpfung kann die Komplikation auftreten - ob seltener oder häufiger als nach Erstimpfung ist Greinacher zufolge anhand der bisherigen Daten aus Großbritannien aber noch nicht klar. Man könne momentan nur sagen: „Eine gut überstandene erste Impfung schließt die Komplikation bei der zweiten Impfung nicht sicher aus.“
Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, hatte kürzlich erklärt: „Das Risiko der speziellen Thrombosen als Nebenwirkung ist sehr gering. Dagegen ist das Risiko einer schweren Komplikation durch Covid-19 für viele Personen sehr viel höher. Lediglich bei den unter 30-Jährigen würde ich zur Verwendung eines mRNA-Impfstoffes raten.“