Literatur und Kultur Rückkehr verbotener Bücher: Syriens literarischer Frühling
Unter Baschar al-Assad wurden unzählige Bücher verboten und Kultur ausgebremst. Heute, nach seinem Sturz, feiern Syrer ihre intellektuelle Wiedergeburt – nicht alle fühlen die neu gewonnene Freiheit.

Damaskus - „Über 53 Jahre habe ich meine Geschichte für mich behalten“, sagt Nisar Abasa. „Heute kann ich sie endlich in Worte fassen und veröffentlichen.“ Jahrzehntelang behielt der heute 80-jährige Schriftsteller viele seiner Ideen und Gedanken für sich – aus Angst, allein für seine Gedankengänge in einem der berüchtigten Foltergefängnisse Syriens zu landen. „Ich habe sie in meinem Herzen bewahrt. Sie beschreiben, was ich und so viele Syrer tagtäglich durchleben mussten. Nun dürfen sie endlich an die Öffentlichkeit.“
Im Syrien von Langzeitmachthaber Baschar al-Assad waren die Gedanken gedrosselt. Hunderte, gar Tausende Bücher wurden nach Einschätzungen syrischer Verlage von Assads Regierung zensiert, vom Markt genommen und verbannt. Im Dezember war der syrische Langzeitherrscher nach fast 14 Jahren eines brutalen Bürgerkrieges mit Hunderttausenden Toten von einer Rebellenallianz gestürzt worden. Nach einer mehr als 50-jährigen Herrschaft der Assad-Familie wird das Land nun von einer Übergangsregierung unter Führung von Islamisten geleitet.
Bücher versteckt in Abwasserrohren
Besonders jene Bücher, die die autoritäre Regierung Assads infrage stellten oder sich einer anderen Ideologie verschrieben, galten als gefährlich, berichtet der Presseverantwortliche des Verlags Dar al-Fikr, Wahid Taja, in Damaskus. Übersetzen lässt sich Dar al-Fikr mit Haus der Ideen - ein Name, der in sich bereits dem Kurs der Regierung widersprach.
Die Behörden seien oft willkürlich gewesen, seien sich selbst nicht einig gewesen, was auf dem Markt erlaubt sein sollte und was nicht. „Sie hatten Stimmungsschwankungen“, beschreibt Taja. Ein Buch, das heute erlaubt war, konnte morgen verboten werden – abhängig von der politischen Wetterlage. Regelmäßig habe es Listen vom Informationsministerium gegeben, die vorgaben, was verboten werden sollte. „Wenn sie bei ihren Besuchen Bücher fanden, die nicht erlaubt waren, wurden sie verbrannt“, sagt er. Kritische Bücher wanderten in den Untergrund. Manche seien gar in Abwasserrohren versteckt worden.
„Ich habe viele Bücher versteckt, behütet wie einen Schatz“, sagt Taja. Immer an verschiedenen Orten, bei Freunden oder in Kellern. Als Assad gestürzt worden sei, habe er „den Staub von ihren Seiten gewischt“ und sie wieder ans Tageslicht geholt. „Es war ein Tag der Befreiung – auch für Syriens Literatur“, so der Verleger. Heute gebe es keine Listen mit Verboten mehr. Dar al-Fikr zögere aber mit Blick auf die neue islamistisch geprägte Führung in Damaskus mit der Veröffentlichung religionskritischer Bücher, auch wenn es dazu nie eine konkrete Ansage gab.
„Sie wollten keine Bildung“
„Sie haben uns nicht erlaubt, zu denken“, sagt Adham Adschamja und bezieht sich auf die Assad-Regierung. Seit zehn Jahren verkauft er Bücher auf dem Freiluftbüchermarkt unter der nun sogenannten Freiheitsbrücke in Damaskus. „Sie wollten keine Bildung“, sagt er. Einmal seien sie mit Bulldozern gekommen, um alle Stände zu zerstören. Triggerwörter wie „Revolution“ im Titel seien Anlass genug gewesen, um die entsprechenden Bücher vom Markt zu nehmen. Zahlreiche Büchereien und Buchhandlungen im ganzen Land seien in simple Schreibwarenläden umgewandelt worden.
Doch Adschamja habe immer daran geglaubt, dass Assad eines Tages verschwinden werde, dass die Bildung zurückkehren würde. Jahrelang verkaufte er die vielen verbotenen Bücher nur im Verborgenen. Heute liegen sie offen und frei zum Verkauf.
Abdallah Hamdan, Verkäufer religiöser Literatur am Nachbarstand, hat mit Anhängern der neuen syrischen Führung eigene Erfahrungen gemacht. Nach dem Sturz Assads seien einige von ihnen zu ihm gekommen, hätten Bücher, die christliche Symbole oder Aufschriften abbildeten, kritisch beäugt und ihn aufgefordert, sie zu verbrennen. „Begeht nicht die gleichen Fehler, wie das alte Regime“, habe er ihnen entgegnet. „Wir alle wollten Freiheit, Bildung und Literatur bedeutet Freiheit“, so Hamdan. Verbrennen musste er die Bücher dennoch.
Angst vor „Wiedergeburt des alten Regimes“
Auch andere Kulturbereiche des Landes stehen dem von außen mit großer Hoffnung belegtem Wandel im Land skeptisch gegenüber. „Was wir jetzt erleben, ist Copy-and-paste“, sagt die Co-Gründerin der Kunstgalerie Zawaya in einem christlichen Viertel von Damaskus, Rola Sleiman. Vorher habe es einen Sicherheitsstaat - also einen Staat basierend auf kontrollierenden Geheimdiensten, Polizei und Militär - gegeben. Heute stütze sich die Übergangsregierung auf ein religiöses System. „Freiheit gibt es bei beiden nicht“, sagt Sleiman.
Zwar habe sie Erleichterung verspürt, dass Assad und auch seine Frau Asma, die für sich die Kontrolle über Kultur und kulturelles Erbe beansprucht hatte, nicht mehr über Syrien herrschten. Dennoch verspüre sie Angst, vor dem was nun kommt.
Im Blitztempo bewegten sich Rebellen unter der Führung der islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham Anfang Dezember auf Damaskus zu, um Assad zu stürzen. „Als sie kurz vor Damaskus standen, habe ich alle Kunst aus unserer Galerie eingepackt und in meinem Zuhause versteckt“, berichtet Sleiman. Erst drei Wochen nach dem Sturz traute sie sich, die Kunstgegenstände wieder zurückzubringen.
Ein vermeintliches Mitglied der neuen Übergangsregierung bezeichnete ihre ausgestellten Skulpturen bei einem Besuch in der Galerie als „haram“, also sündhaft. Doch die Bildhauerei sei eine der ältesten Künste Syriens, betont Sleiman. „Ich habe Angst, denn wir brauchen wirklich keine Wiedergeburt des alten Regimes“, sagt sie.