Um 1900 - Schwergewichtiger Bildband mit Farbfotos
Das wilhelminische Deutschland um 1900 wurde zunehmend auch als Reiseland entdeckt und ist jetzt noch einmal als Porträt in Farbe zu besichtigen, obwohl es die Farbfotografie damals noch gar nicht gab. Möglich machte das ein spezielles Verfahren.

Berlin (dpa) - Deutschland um 1900 heißt ein schwergewichtiger, nicht weniger als sieben Kilogramm wiegender Bildband mit historischen Stadtansichten und Landschaftsaufnahmen in Farbe, obwohl es die Farbfotografie vor über 100 Jahren noch gar nicht gab.
Möglich machte den Trick damals das sogenannte Photocromverfahren als eine neue Drucktechnik, die Schwarz-Weiß-Fotos nachkolorierte und sich besonders in der Tourismus- und Ansichtskartenindustrie großer Beliebtheit erfreute.
Auf 610 zum Teil ausklappbaren Seiten sind 800 Fotos versammelt, die einen meist romantischen Reiseführer durch mittelalterliche Städte und die Metropolen der Gründerzeitjahre mit ihren Boulevards darstellen. Oder sie führen in weiträumige Landschaften, von den bayerischen Alpen bis zum Riesengebirge und zu den ersten mondänen Seebädern, dem brodelnden Potsdamer Platz in Berlin, in das mittelalterliche Rothenburg ob der Tauber ebenso wie auf die Wartburg oder den Brocken.
Es sind im wahrsten und doppelten Sinne des Wortes geschönte Aufnahmen, da sie einerseits nachkoloriert, also aufgehübscht wurden - die Frauen tragen auffallend grellbunte Röcke - und andererseits als Marketinginstrument für den Tourismus mit der aufkommenden Souvenir-Fotografie dienten, so dass der Titel Deutschland um 1900 seinem Anspruch nicht ganz gerecht wird, da naturgemäß die hässlichen Seiten des aufkommenden Industriezeitalters mit den ärmlichen Wohnquartieren weitgehend außen vor bleiben. Wer verschickt schon solche Ansichtskarten?
Es sind die bildhaften Erinnerungen eines Landes, das zunehmend zum attraktiven und selbstbewussten Reiseland wird. Das war nicht zuletzt an den pompösen Innenausstattungen der Reichspostdampfer als Ausflugsschiffe auf dem Rhein abzulesen, deren Speisesäle dem Prunk der Titanic kaum nachstanden. Noch einmal erscheinen hier in alter Pracht die später in zwei Weltkriegen (und auch verfehlten Nachkriegsentwicklungen) zum großen Teil zerstörten Altstädte historischer Orte wie Nürnberg, Dresden, Hildesheim und Braunschweig oder die Momentaufnahmen vor dem Ersten Weltkrieg der heute in Polen liegenden Städte wie Danzig und Breslau. Hamburg ist natürlich mit Alster-Panorama, dem Villenviertel Blankenese mit den Anwesen der reichgewordenen Kaufleute am Elbhang, dem Jungfernstieg und dem historischen Alster-Pavillon mit Deutschlands erstem Eiscafé seit 1799 (es wurde Geforenes angeboten) vertreten.
Verdienstvoll sind die kleinen ergänzenden Textbeiträge mit oftmals interessanten Einzelheiten, Besonderheiten und Anmerkungen von Autor und Herausgeber, mehrsprachig in Deutsch, Englisch und Französisch (Karin Lelonek, Marc Walter und Sabine Arqué).
Die junge Reichshauptstadt prunkt nicht nur mit dem architekturhistorisch bemerkenswerten Gendarmenmarkt (der hier wie aus dem Ei gepellt geharkt, gefegt und fast klinisch sauber wirkt) und den wuselnden Boulevards Unter den Linden und Friedrichstraße mit ihren Cafés und Pferdedroschken, sondern natürlich auch mit dem Lustgarten-Ensemble Berliner Dom und Stadtschloss, hier imposant mehrseitig aufklappbar zu bestaunen. Wobei selbst der überzeugteste Befürworter des Wiederaufbaus (weil stadthistorisch erst dadurch der Schlussstein gesetzt wird) leise einräumen wird, dass der Hohenzollernschloss-Kasten zumindest äußerlich nie zu den schönsten Schlössern Europas gehört hat.
Bei den Schlössern des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II., die ihn ruinierten, wird auf einen Umstand hingewiesen, der in Vergessenheit geraten ist. Die aufwendigen Bauten waren damals auch Motor für die bayerische Wirtschaft, denn wo nur möglich seien die Aufträge innerhalb des Königreichs vergeben worden. Und zum Glück für das bis heute beliebte Touristenland Bayern wurde auch nicht Ludwigs Wunsch erfüllt, die Schlösser nach seinem Tod wieder zu zerstören. Sie waren schon im Deutschland um 1900 begehrte Fotomotive und gefragte Objekte beim Photocromverfahren zum Nachkolorieren, wie dieser Bildband zeigt, für den man eigens den Wohnzimmertisch freimachen sollte, um auf eine historische Deutschlandreise zu gehen, quasi ein Dia-Abend zum Umblättern für die ganze Familie.
- Marc Walter, Sabine Arqué, Karin Lelonek (Herausgeber/Autor): Deutschland um 1900 - Ein Porträt in Farbe. Großformat, 610 Seiten, ca. 800 Fotos, Taschen Verlag, Köln, 150 Euro, ISBN 978-3-8365-3752-0.