Vom Ziehsohn zum Todfeind: Hera Linds "Drachenkinder"
München - Schon seit einiger Zeit findet Hera Lind (56) ihre "Superweiber" weniger in ihrer Fantasie als in der Realität. So schrieb sie eine Reihe von Tatsachenromanen über Frauen mit dramatischen Lebensschicksalen.
Auch Sybille Schnehage ist eine solche Heldin der Wirklichkeit. Die studierte Physikerin aus dem niedersächsischen Bergfeld engagiert sich seit 30 Jahren in Afghanistan. Sie gründete den Verein Katachel, der mittellose Frauen und Kinder in der Provinz Kundus unterstützt. Das allein hätte wahrscheinlich noch nicht für einen guten Romanstoff getaugt.
Doch Sybille Schnehages humanitärer Einsatz war auch mit einer persönlichen Tragödie verbunden. Ihr afghanischer Ziehjunge Dadgul Delawar, den sie mehr tot als lebendig aus seiner vom Krieg zerrissenen Heimat nach Deutschland holte und dort unter großen Mühen aufzog, dankte ihr dies nicht. Nachdem Schnehage ihn zum Projektleiter ihres Vereins in Katachel gemacht hatte, missbrauchte er ihr Vertrauen. Er veruntreute Spendengelder, fälschte Dokumente und verleumdete schließlich sogar seine Ziehmutter. Schließlich ermittelten die deutschen Behörden auch gegen Sybille Schnehage. Sie sah sich schlagartig um ihr Lebenswerk gebracht.
Trotz aller biografischer Unterschiede ähneln sich doch alle Heldinnen aus den Hera-Lind-Romanen auf seltsame Weise. Auch die Sybille Schnehage in "Drachenkinder" ist wieder eine superpatente Hausfrau und Mutter, eine Mischung aus Mutter Teresa und Inge Meysel. In ihrer Übertüchtigkeit geht die Heldin und Ich-Erzählerin manchmal gehörig auf die Nerven, nicht nur ihren Nachbarn im heimischen Bergfeld oder den trägen afghanischen Männern, sondern auch dem Leser, der mit flotten Sprüchen der beherzten Niedersächsin geradezu bombardiert wird, vor allem im ersten Teil des Buchs. Nicht immer trifft der Witz der Sprüche, besonders wenn sie auf Kulturunterschiede abzielen.
Trotzdem ist der Roman zweifellos spannend. Denn im Mittelpunkt steht die zutiefst berührende Frage, wie es möglich ist, einen Menschen zu verraten, von dem man nur Gutes erfahren hat. Hera Lind zeigt recht plausibel, wie Dadgul sich in seiner afghanischen Umwelt verändert. Plötzlich fühlt er sich in seiner männlichen Ehre gekränkt, sich von einer Frau etwas sagen zu lassen, auch wenn es seine Ziehmutter ist. Das viele Geld steigt ihm zu Kopf, er schwingt sich in seinem Dorf zum Herrscher auf, er ist der großen Verantwortung nicht gewachsen. Die Geschichte fesselt vielleicht auch deshalb, weil wir alle in unserem tiefsten Inneren Angst davor haben, dass das Vertrauen, das wir geben, missbraucht werden könnte.
- Hera Lind: Drachenkinder. Diana Verlag, München, 384 Seiten, 8,99 Euro, ISBN 978-3-453-35647-4.