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„Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“ Doppeldenk und Neusprech

Heute vor 75 Jahren erschien George Orwells „1984“. Zunächst als Entlarvung des Stalinismus konzipiert, hat der Roman nichts von seiner Bedeutung verloren, die er im Kalten Krieg hatte.

Von Uwe Kreißig 08.06.2024, 13:33
Der hohe Parteifunktionär O’Brien (Richard Burton in seiner letzten Rolle; l.) täuscht Winston und lässt ihn nach dessen Festnahme foltern und umdrehen. Szene aus der aufwühlenden, werkgetreuen britischen Verfilmung des Romans aus dem Jahr 1984 von Michael Radford.
Der hohe Parteifunktionär O’Brien (Richard Burton in seiner letzten Rolle; l.) täuscht Winston und lässt ihn nach dessen Festnahme foltern und umdrehen. Szene aus der aufwühlenden, werkgetreuen britischen Verfilmung des Romans aus dem Jahr 1984 von Michael Radford. IMAGO/United Archives Entertainment

Magdeburg. - Als George Orwell seinen Roman „1984“ kurz vor seinem Tod im Jahr 1950 fertig gestellt hatte, konnte er nicht ahnen, dass er damit einen Klassiker geschaffen hatte, der inhaltlich, stilistisch und in seinen Prophezeiungen weiterhin gültig ist.

Entstanden war das Buch in Orwells Kenntnis der Vorgänge der großen „Säuberungen“ unter Stalin, aber auch der alles überwölbenden, totalitären Propaganda im sowjetischen System. Beeinflusst wurde Orwell zudem durch die Romane „Die eiserne Ferse“ von Jack London und „Wir“ von Jewgeni Samjatin.

Die Hauptfigur ist der kleine Beamte Winston Smith, der Mitglied der „Äußeren Partei“ ist, und im Ministerium für Wahrheit Texte aus der Vergangenheit umschreibt. Smith lebt in kargen Verhältnissen im „Landefeld 1“, dem ehemaligen England, das zu Ozeanien gehört. Ozeanien liegt im Dauerkrieg mit einem der beiden anderen Superstaaten Eurasien und Asien. London ist völlig heruntergekommen.

Die Gedankenpolizei überwacht jeden mit Spitzeln und „Telescreens“. Im Staatsfernsehen läuft Propaganda in Schleife. Vermeldet werden praktisch nur Erfolge. Festgeschrieben ist die „Hasswoche“ gegen austauschbare politische und militärische Gegner.

Neben der „Elite“ und der „äußeren Partei“ gibt es die „Proles“. „Körperliche Schwerarbeit, die Sorge um Heim und Kinder, kleinliche Streitereien mit den Nachbarn, Kino, Fußball, Bier und vor allem Glücksspiele steckten ihren Denkhorizont ab. Es war nicht schwer, sie unter Kontrolle zu halten“, heißt es über diese Gruppe.

Folter für Abweichler im Ministerium für Liebe

Smith wird eines Tages zum Zweifler, beginnt ein verbotenes Tagebuch und eine verbotene Liebe zu einer Parteigenossin, die ihn als Abweichler bestärkt. Doch beide werden denunziert, im „Ministerium für Liebe“ gefoltert und vollständig umgedreht.

Orwell erkannte den Wunsch repressiver Machteliten nach expansiven, zentralisierten Superstaaten. Die ständige Überwachung der Bürger ist dabei das zentrale Moment. In seiner düsteren Zukunftsvision wird an den Außengrenzen ein permanenter Krieg gegen einen schrecklichen Gegner geführt, den es zu vernichten gilt. Die Propaganda meldet jeden Tag gewaltige Erfolge. Der Dauerkrieg dient als Begründung für Mangel, Rüstung und letztlich auch für die Herrschaft von Partei und des „Großen Bruders“.

Ständig wird in „1984“ der Ausnahmezustand beschworen, nur das Kriegsziel ändert sich. Zentral sind dem Regime der völlige Umbau und die Reinigung der Sprache von „schädlichen Begriffen“. Daraus entwickelt sich das „Neusprech“. Bereits der Wunsch zum Widerstand ist ein „Gedankenverbrechen“, für die Aufklärung ist die „Gedankenpolizei“ zuständig.

In der DDR war das Buch wie in den meisten Ostblockstaaten verboten. Die Stasi machte Jagd auf Besitzer, das in einzelnen Exemplaren ins Land geschmuggelt wurde. Immer wieder wurden in der DDR Gefängnisstrafen für den Besitz von „1984“ verhängt.

Buch in China keineswegs verboten

Interessanterweise ist es in China seit Maos Tod nicht mehr verboten. Das Buch steht dort in vielen Büchereien, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ im vergangenen Jahr berichtete. 1979 war es erstmals in einer chinesischen Übersetzung für den „inneren Kreis“ erhältlich, seit 1988 dann für alle Chinesen. Überraschend erscheint auch, dass 2023 in Russland ein auf Orwells Roman beruhender Film mit dem Originaltitel „1984“ gedreht wurde.

Viele Zitate aus „1984“ stehen für sich und sind legendär geworden. „Freiheit bedeutet die Freiheit, zu sagen, dass zwei und zwei vier ist. Gilt dies, ergibt sich alles Übrige von selbst“, heißt es bei Orwell. Oder: „Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“

Um die alltäglichen Widersprüche der Diktatur in Ozeanien überhaupt in eine „logische Form“ zu bringen, bedarf es des „Doppeldenks“. „Doppeldenk bedeutet die Fähigkeit, gleichzeitig zwei einander widersprechende Überzeugungen zu hegen und beide gelten zu lassen … Doppeldenk ist der Kern des Engsoz, denn das Hauptgeschäft der Partei besteht in bewusster Täuschung, bei der sie die Unerschütterlichkeit absoluter Redlichkeit bewahrt“, heißt es im Roman.

Die oberste Regel in Ozeanien lautet: „Was die Partei für Wahrheit hält, ist die Wahrheit. Es ist unmöglich, die Wahrheit anders zu sehen, als mit den Augen der Partei.“

Winston (John Hurt) und Julia (Suzanna Hamilton) verlieben sich, was für Funktionäre illegal ist. Später werden sie sich gegenseitig vor der Geheimpolizei denunzieren.
Winston (John Hurt) und Julia (Suzanna Hamilton) verlieben sich, was für Funktionäre illegal ist. Später werden sie sich gegenseitig vor der Geheimpolizei denunzieren.
imago/United Archives International