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"Nach dem Ende" im Theater der Altmark Gewalt, vor der man gern die Augen schließt

06.09.2011, 04:30

Das Theater der Altmark hat sich wieder einmal als überaus mutig erwiesen und mit "Nach dem Ende" ein Stück in den Spielplan aufgenommen, das sein Publikum an den Rand des Erträglichen bringt. Hier werden Dinge gezeigt, vor denen man nur allzu gern die Augen fest verschließen möchte.

Von Birgit Tyllack

Stendal. Für manchen Zuschauer mag die Grenze dessen, was auf einer Bühne gezeigt werden darf, gar überschritten worden sein, für die Anderen gilt: Es ist zu ertragen. Theater steht nicht nur für "Frieden, Freude, Eierkuchen", sondern muss sich auch Themen widmen, die schwer auszuhalten sind.

Regisseurin Julia Heinrichs stellt sich einem dieser Themen und schreckt dabei auch vor schockierend-drastischen Szenen nicht zurück. Eine Beinah-Kastration und eine Vergewaltigung werden nicht "angedeutet", sondern realistisch dargestellt. Und nur so ist das Gesamtbild stimmig. Was dort auf der Bühne passiert, kann nicht verschönert werden, indem man einige Szenen lieber nicht zeigt.

Zum Inhalt: Die Detonation einer Atombombe hat die Welt in Schutt und Asche gelegt, alles Leben in einem gewissen Umkreis ausgelöscht. Nur Mark und Louise sitzen unversehrt in einem Bunker. Mark hat sich und seine ohnmächtige Kollegin in den eigenen kleinen Bunker retten können. Viel Spott hat ihm dieser Bunker zuvor eingebracht, doch jetzt bietet er Sicherheit.

Mark verehrt Louise schon lange. Sie hat ihm bisher meist Verachtung entgegengebracht. Zu verschroben sind Marks Ansichten und sein Verhalten. Nun hockt sie auf engstem Raum mit ihm zusammen. Mark hat Louise gerettet, er will sie weiterhin schützen. Auch vor ihrer eigenen Unwissenheit.

Zum Beispiel ihre Weigerung, ein Rollenspiel mit ihm zu spielen. Obwohl Mark ihr klarzumachen versucht, dass man sich in Notsituationen beschäftigen muss, lässt sie sich nicht überreden. Er beschließt, Louise mit einer radikalen Kürzung der Essensration zur Vernunft zu bringen ... Er will sie doch nur schützen. Oder?

Im Publikum schleichen sich Zweifel ein: Gab es wirklich einen politischen Anschlag? Ist Mark Retter oder Psychopath? Die Puzzleteilchen setzten sich zusammen, bis klar ist: Mark spielt das irre Spiel eines Besessenen.

Sören Ergang gibt seinen Mark zunächst recht sympathisch. Der eigenartige junge Mann ist auf eine rührende und schüchterne Art bemüht um seine Kollegin. Ganz allmählich zeigt er sich von seiner anderen Seite. Seine Liebe ist ein Besitzenwollen, diktatorisches Benehmen und rohe Gewalt zum "Schutz" des Anderen sind völlig legitime Mittel.

Und doch: Immer wieder kommt der Außenseiter Mark zum Vorschein, der das alles nicht will und um Hilfe ruft. Ergang schafft diesen Spagat grandios. Er ist der arme Kerl, der Mitleid erregt, er ist ein Wolfgang Priklopil und ein Anders Breivik. Einerseits erschüttert über sein eigenes Tun, andererseits felsenfest davon überzeugt, das Richtige zu tun.

Frederike Duggen hat ihre Louise als das perfekte Gegenstück angelegt. Bis zum Schluss glaubt sie an die Weltuntergangsversion. Zu ungeheuerlich ist die Vorstellung, dass ein Mensch einem anderen so etwas antun könnte. Beizeiten aufkommende Zweifel werden schnell verworfen. Für sie geht es im Grunde nur darum, dass sie überleben muss. Sie ist mit einem Mann auf engstem Raum gefangen, der ihr körperliche und geistige Gewalt antut.

Duggen wandelt sich von einer "normalen" jungen Frau in ein traumatisiertes Wesen, das nach seiner Rettung gebrochen ist. Die Welt, wie sie sie gewöhnt ist, geht für Louise erst dann unter ...

Beide Schauspieler geben ganz große Schauspielkunst zum Besten. Und trotz der erwähnten realistischen Drastik hat Regisseurin Heinrichs Feingefühl bewiesen, indem sie die Zwischentöne herausgearbeitet hat. Ein nachhaltig beeindruckendes Theaterstück ist dabei herausgekommen. Gewisse Szenen muss man "aushalten" können, aber mal ehrlich: Viele Filme zeigen viel Brutaleres ...