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Zum 275. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe - Festakt in Bad Lauchstädt „Gretchen im Kerker ist für mich Ulrike Meinhof“

Theatermann Holk Freytag überrascht mit einer neuen Deutung zu „Faust“. Und Harald Schmidt stellt die Systemfrage: „Wer ist der Westen? - Was bringt der Westen?“

Von Uwe Kreißig Aktualisiert: 30.08.2024, 15:50
Harald Schmidt am 28. August zur Goethe-Ehrung im Theater Bad Lauchstädt.
Harald Schmidt am 28. August zur Goethe-Ehrung im Theater Bad Lauchstädt. Foto: Kreißig

Bad Lauchstädt - Am Anfang geht es schwerfällig zu, wie so oft bei Theaterstücken, auch wenn am Mittwochabend im Goethe-Theater Bad Lauchstädt eben gerade kein Stück läuft, aber eine Art von Aufführung. Zum Festakt anlässlich des 275. Geburtstages von Deutschlands größtem Dichter sind Theatermann Holk Freytag, Dramaturgin Ilsedore Reinsberg und Satiriker Harald Schmidt angetreten, um die aktuelle Bedeutung Goethes anhand der „Iphigenie“, des „Tasso“ und vor allem der beiden Faust-Dramen zu besprechen.

„Was der Westen bringt?“

Holk Freytag bringt dieses ohnehin schon sehr starre Konzept gleich zu Beginn ins Wanken, indem er die „Iphigenie“ mit dem gescheiterten Afghanistan-Krieg der Westkoalition in Verbindung bringt und zwei Fotos einblendet, deren Authenzität fragwürdig erscheint, wie auch Schmidt bei dem Motiv einwendet, auf dem ein farbiger GI einer afghanischen Frau mit Kopftuch die Hand zum „Gib Five“ hinhält.

„Spätestens seit Napoleon hätte man wissen können, es bringt nichts gegen Moskau zu ziehen.“

Während Freytag in Anspielung auf die Gegenwart festhält, dass Iphigenie den Herrscher Thoas in Taurien - das „mit der Krim“ gleichgesetzt sei - zu „westlicher Humanität“ anhalte, zeigt sich Schmidt skeptisch. „Wer ist der Westen?“, fragt er und dreht die Frage gleich weiter: „Was der Westen bringt?“. Nun kommt Bewegung in die Diskussion. Mit dem Krim-Hinweis und der Problematik der Sinnhaftigkeit westlicher Interventionen und Kriege hält sich Schmidt, dem das Publikum auf dem Fuße folgt, nicht zurück: „Spätestens seit Napoleon hätte man wissen können, es bringt nichts gegen Moskau zu ziehen.“ Überhaupt sei die „Iphigenie“ ein Stück wie „Nathan der Weise“, also etwas langweilig und zu moralaufgeladen; letzten Endes gehe man dann lieber zu „Cats“. Und überhaupt: „Böhmische Dörfer sind mir näher.“

„Ich kann nicht sagen, dass ich von Goethe Ahnung hätte. Ich verehre ihn aus der Ferne.“

„Tasso“ wird schnell abgehandelt, und man wechselt zum „Faust“. Inzwischen hat sich das Prozedere eingespielt. Während Freytag einführt und intellektuelle Deutungen einwirft, findet Ilsedore Reinsberg, die wirklich gut ist, aber sich deutlich zurückhält, realistische Einschätzungen zu den Fragen, die der große Meister abhandelt oder eben auch nicht, aber die Pointen haut letztlich immer Schmidt raus. Offen bekennt er: „Ich kann nicht sagen, dass ich von Goethe Ahnung hätte. Ich verehre ihn aus der Ferne.“ Für seine „Oberflächlichkeit“ bittet er um Nachsicht, „aber die kriegt man, wenn man mich einlädt.“

Harald Schmidt: „Ist das System noch relevant?“

Schließlich wird der Abend, der einen hohen Unterhaltungswert aufweist, ein Gespräch über den Wert von Kultur in einer deutschen Gesellschaft, die - entgegen jahrelanger Sonntagspredigten aus der Politik - in tiefen Krisen feststeckt. Ist Kultur da noch relevant? „Ist das System noch relevant?“, sollte die Frage sein, wie Schmidt meint. Dass das Theater gesellschaftliche Veränderungen bewirke, glaube er keine Sekunde: „Der Aufruf zum Klassenkampf ist gar nicht mehr möglich ohne staatliche Unterstützung.“ Überhaupt das Theater. Wenn er auf dem Plakat lese „Nach Shakespeare“ gehe er lieber ein Bier trinken.

Wie Walter Ulbricht den „Faust II“ deutete

Im „Faust“ steckt dann doch einiges mehr. Freytag erinnert an eine Ulbricht-Rede von 1962, der die Stelle „Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, Verpestet alles schon Errungne; Den faulen Pfuhl auch abzuziehn, Das Letzte wär' das Höchsterrungne“ mit dem Aufbau des Kommunismus gleichsetzte. Die Deutung, dass Goethe im Schlussmonolog von „Faust II“ den Kommunismus vorhergesagt habe, wurde später Abiturstoff für die 12. Klassen in der DDR. Vor einigen Jahren hat Sigrid Damm in „Goethes letzte Reise“ eine völlig neue Deutung des Schlussmonologs entworfen: Sie sieht die Zeilen in Verbindung mit einem der wenigen großen Projekte Goethes, die scheiterten: der Wiedereröffnung des Bergwerks Ilmenau.

In wie vielen Bundesländern ist „Faust“ noch Schulstoff?

Unabhängig davon wurde Goethes Werk in der DDR-Schule ernst genommen, vielleicht mehr noch als Schiller. Doch heute sei der „Faust“ nur noch Pflichtschulstoff in drei Bundesländern, wirft Freytag ein. Tatsächlich? Das wäre ein Skandal, zeigt aber auch, wie weit wir gekommen sind.

Faust als Hoffnung des alten weißen Mannes

Nach den fast skurrilen Höhen Faustscher Auslegung in DDR-Zeiten folgt wieder Schmidtsches Kabarett. „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“, heiße es im „Faust“. Da gebe er 150 Prozent Zustimmung. Er sehe ja auch zu Hause, was der Satz bedeute. Dennoch sei „Faust“ auch die Hoffnung des alten weißen Mannes, siehe „Erster Teil“: „Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, bald Helenen in jedem Weibe.“

„Faust“ ist nicht nur Leben, Liebe, Tod, Wissen, „Faust“ war und ist auch deutsche Politik. Doch jetzt wird es skurril. Holk Freytag lässt ein frühes Foto von Ulrike Meinhof auf die Bühnenleindwand werfen: „Gretchen im Kerker ist für mich Ulrike Meinhof.“ Diesen Aspekt hat bislang noch kein Literaturwissenschaftler entdeckt. Nicht nur leichtes Erstaunen in den Reihen.

Nach der 80-minütigen Aufführung gibt es draußen die von Schmidt im Epilog versprochenen Selfies, die in ein paar Minuten vor der Theaterimbissbude abgeknipst sind. Noch besser als der ohne schon wunderbare Abend ist schließlich die Zugabe, die Harald Schmidt im Anschluss draußen unter Parkbäumen mit ein paar Interessierten über die Dinge der Welt, der Politik und der Erinnerung an die alte Kultur gibt.

So etwas geht nur an einem späten Sommerabend im allzu stillen Bad Lauchstädt von 2024 - so still, wie es zu Zeiten des Kursommers im ancien Régime vielleicht niemals war.