Gesellschaft Israel-Debatte: Zwischen Solidarität und „Massenhysterie“
Der britische Regisseur Glazer nutzte die Oscar-Verleihung für Israel-Kritik. Es fällt auf, dass der internationale Blick auf den Gaza-Krieg anders ist als in Deutschland - auch bei den Stars. Warum?
Berlin - Die Oscar-Gala ist die denkbar größte Bühne, und der britische Regisseur Jonathan Glazer nutzte sie dafür, den Krieg zwischen Israel und der Hamas anzusprechen. Sein Film „The Zone of Interest“ über die Familie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß hatte soeben den Oscar für den besten internationalen Film bekommen. Er wolle damit aktuell zum Nachdenken anregen, las der 58-Jährige, der selbst jüdisch ist, von einem Blatt ab.
„Unser Film zeigt, wohin Entmenschlichung im schlimmsten Fall führen kann. Sie hat unsere gesamte Vergangenheit und die Gegenwart geprägt. Genau jetzt stehen wir hier als Menschen, die sich dagegen wehren, dass ihr Jüdischsein und der Holocaust von einer Besatzung ausgenutzt werden, die so viele unschuldige Menschen in einen Konflikt geführt hat. Ob es die Opfer des 7. Oktober in Israel sind, der fortdauernde Angriff auf Gaza, all die Opfer dieser Entmenschlichung. Wie leisten wir Widerstand?“
Das Publikum reagierte mit Beifall und Jubel. Auch viele Kommentatoren feierten die Rede am nächsten Tag als mutiges Statement - andere, vor allem auch in Deutschland, verurteilten sie als Verharmlosung des Holocaust.
Im Ausland mehr Israel-Kritik
Immer wieder zeigt sich, dass der Diskurs über den Nahost-Konflikt im Ausland ein anderer ist als in Deutschland – er ist durchweg israelkritischer. So erregte die US-Feministin Judith Butler Aufsehen mit ihrer Aussage, der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober sei ein „Akt des bewaffneten Widerstands“ gewesen.
In einem Beitrag für die Wochenzeitung „der Freitag“ stellte sie klar, dass sie die „Gräueltaten“ selbstverständlich verurteile und über den Tod der israelischen Bürger „zutiefst erschüttert“ sei. Wer aber wissen wolle, wie es zu diesem Angriff gekommen sei, könne nicht ausblenden, dass ihm „Jahrzehnte der Gewalt“ vonseiten der „Besatzungsmacht“ Israel vorausgegangen seien. Butler spricht in diesem Zusammenhang weiterhin von einem „Genozid“ an der palästinensischen Bevölkerung.
Der Begriff Genozid (Völkermord) bezeichnet laut UN-Konvention die Absicht, eine Bevölkerungsgruppe zu zerstören. Den Genozid-Vorwurf weisen Israel und auch die deutsche Regierung zurück. Israel strebt nach eigenem Bekunden die Zerschlagung der islamistischen Terrororganisation Hamas an, nicht jedoch die Zerstörung des palästinensischen Volkes, und hat zugesagt, den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag forderte Israel in einem einstweiligen Entscheid auf, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um einen Völkermord zu verhindern.
Stephan Grigat, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen, vertritt die Auffassung, dass auch im deutschen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb offene Israel-Feindschaft vorkomme.
„Aber es stimmt, insgesamt laufen die Debatten innerhalb der Kunst- und Kulturszene in Deutschland etwas anders als im internationalen Vergleich. Naturgemäß gibt es in Deutschland - wie übrigens auch in Österreich, dem zweiten unmittelbaren Nachfolgestaat des Nationalsozialismus - eine etwas anders gelagerte Debatte über Antisemitismus wie auch über Israel. In der linken Kulturszene ist es international so, dass es fast durchgängig eine israelfeindliche Positionierung gibt.“
Blick in die Historie
In vielen nicht westlichen Ländern ist der Referenzpunkt für das ultimative Menschheitsverbrechen nicht der Holocaust, sondern der Kolonialismus. Aber auch westliche Gesellschaften wie etwa die britische arbeiten sich mit guten Gründen seit vielen Jahren an der Kolonialvergangenheit ab.
Auf der linken Seite des politischen Spektrums hat dies vielfach dazu geführt, dass auch der Staat Israel als westliches koloniales Projekt interpretiert wird. Nach dieser Lesart ist Israel die Kolonialmacht, die in der Region eigentlich nichts zu suchen hat, und die Palästinenser sind das unterdrückte einheimische Volk.
Grigat hält dies für „komplett unhistorisch“. Die Gründung des Staates Israel sei gerade ein antikolonialer Akt gewesen, weil damit die Mandatsmacht Großbritannien vor die Tür gesetzt worden sei. „Und weil das so war, haben in den 50er und 60er Jahren viele der neu entkolonialisierten Staaten in Afrika ein ganz enges Verhältnis zu dem jungen Staat Israel gehabt.“
Dazu komme, dass ein großer Teil der israelischen Juden heute gar nicht mehr aus Europa stamme, sondern aus arabischen Staaten. Von daher sei es auch absurd, wenn Israel in der heutigen postkolonialen Debatte um schwarze und weiße Bevölkerungsgruppen als „weiß“ und damit privilegiert eingestuft werde.
„Wenn man das auf die israelische Bevölkerung umlegt, merkt man, dass das vorne und hinten nicht stimmt. Über 50 Prozent der Juden in Israel stammen aus dem Irak, aus dem Jemen, aus Marokko, aus Ägypten - die haben mit weißen Europäern überhaupt nichts zu tun.“
Forderung: „Nie wieder!“ ausweiten
Unabhängig von der Kolonialismus-Debatte wird Deutschland von vielen Intellektuellen im westlichen Ausland vorgeworfen, die rechtsnationale Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu aufgrund eines aus dem Holocaust herrührenden Schuldkults bedingungslos zu verteidigen. Leidtragende seien die palästinensischen Zivilisten, die dadurch der Gewalt der israelischen Streitkräfte ausgeliefert würden.
„Free Palestine from German guilt“ - Befreit Palästina vom deutschen Schuldkomplex - lautet hier die Parole. Eine Gruppe westlicher Geisteswissenschaftler hielt Deutschland in einer im „Guardian“ veröffentlichten Erklärung vor, das Gebot des „Nie wieder!“ müsse für Israelis und für Palästinenser gleichermaßen gelten - und nicht für Palästinenser etwas weniger. Es gebe keine Menschenwürde erster und zweiter Klasse.
Ebenso äußert sich die Schriftstellerin Deborah Feldman, Autorin des autobiografischen Weltbestsellers „Unorthodox“, der inzwischen auch für Netflix verfilmt wurde. „Ich bin der festen Überzeugung, dass es nur eine einzige legitime Lehre des Holocaust gibt, und das ist die absolute, bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle“, sagte die 37-Jährige bei Markus Lanz. Feldman ist selbst Nachkomme von Holocaust-Überlebenden, wuchs in einer streng religiösen Familie in New York auf und lebt seit zehn Jahren in Berlin.
„Fast eine Massenhysterie“
Sie sieht die deutsche Israel- und Antisemitismus-Debatte äußerst kritisch - die Deutschen drehten sich dabei in erster Linie um sich selbst und ihre historische Schuld. Der Antisemitismus-Vorwurf werde gezielt benutzt, um Kritik an der israelischen Regierung zu ersticken, sagte Feldman beim Literaturfestival Lit.Cologne.
Die „perfide Verdrehung und Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs“ sei „fast eine Massenhysterie“ geworden: Selbst Juden, die sich israelkritisch äußerten, würden mittlerweile als Antisemiten gebrandmarkt.
Apartheid in Israel?
Als Beispiel nannte sie den israelischen Filmemacher Yuval Abraham, der zusammen mit dem Palästinenser Basel Adra den Film „No Other Land“ über die Siedlungspolitik in der Westbank gedreht hat und dafür bei der Berlinale ausgezeichnet wurde. Bei der Gala sprach er darüber, dass sie nun beide wieder nach Israel zurückkehren und dort aufgrund einer „Situation der Apartheid“ sehr ungleich behandelt werden würden.
Grigat hält den Begriff „Apartheid“ für unzulässig: „Er bezieht sich auf das rassistische Apartheidsregime in Südafrika. In Israel dagegen gibt es auch arabische Richter und Parteien. Und in der Westbank resultiert die Ungleichbehandlung der palästinensischen Bevölkerung nicht aus einer rassistischen Ideologie, sondern in erster Linie aus dem Verlauf des Konflikts und der Notwendigkeit der israelischen Sicherheitsmaßnahmen angesichts von anhaltendem Terror.“
Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen erheben hingegen durchaus den Vorwurf, dass Israel in den von ihm kontrollierten palästinensischen Gebieten ein Apartheidsregime errichtet habe, das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstelle.
Habeck: „Das ist meine Staatsräson“
Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), der kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel ein millionenfach aufgerufenes Video zum Thema Antisemitismus veröffentlicht hatte, erklärte vergangene Woche bei der Lit.Cologne noch einmal, warum der Diskurs in Deutschland zwangsläufig anders verlaufen müsse als im Ausland.
Er betonte, dass Deutschland ebenso wie andere Länder die Pflicht habe, humanitäre Hilfe für die Palästinenser zu leisten, ihre Lebensbedingungen zu verbessern und auf eine Zwei-Staaten-Lösung hinzuwirken. Was Israel betreffe, habe Deutschland aber eben eine besondere Verpflichtung, die sich aus der Geschichte ergebe.
„Das Versprechen nach dem Faschismus in Deutschland war: Es gibt einen sicheren Ort auf der Welt, wo Juden immer hingehen können.“ An dieses Versprechen sei Deutschland nach wie vor gebunden. „Deswegen gibt es eine speziell deutsche Verantwortung - und die ist auch anders als die dänische oder französische Verantwortung - die Existenz Israels und damit einen sicheren Ort für Jüdinnen und Juden auf der Welt zu gewähren und zu verteidigen und zu schützen. Und das ist meine Staatsräson.“