Die Band "Keimzeit" kommt nach Magdeburg / Interview mit dem Sänger Norbert Leisegang "Glücklich, wenn die Leute Favoriten haben"
Seit 1980 stehen die Brüder Leisegang zusammen auf der Bühne - seit dreißig Jahren bilden die drei den Kern von Keimzeit. Am Sonnabend spielt die Band in der Festung Mark in Magdeburg. Für die Volksstimme sprach Torsten Wahl mit dem Keimzeit-Sänger Norbert Leisegang.
Volksstimme: Andere Bands feiern Jubiläen mit "Best Of"-Album. Sie gehen mit einem neuen Album an den Start? Warum?
Norbert Leisegang: Weil wir immer noch Freude daran haben, ins Wasser zu springen, etwas Neues auszuprobieren. Auch wenn wir bei den Aufnahmen zu "Kolumbus" wieder mal in schwere See geraten sind. Hätte ich gewusst, was alles passiert - wer weiß, ob wir\'s riskiert hätten.
Volksstimme: Was ist denn passiert?
Leisegang: Die Aufnahmen in Andalusien verliefen alles andere als harmonisch. Produzent Paul Grau wollte kein gefälliges Album, sagte uns aber: Die Ecken und Kanten müsst Ihr selbst schaffen. Dann hat er mich erst mal mit einigen halbseidenen Songs und Texten in die Wüste geschickt - so etwas tut natürlich weh.
Volksstimme: Dabei hört sich das Album wieder runder, harmonischer an!
Leisegang: Ja, das ist paradox: Oft profitiert die Musik vom Streit. Aber leider ist es bei uns so, dass immer einer von Bord geht, wenn wir in eine neue Keimzeit eintreten. Gitarrist Rudi Feuerbach hat uns verlassen, nachdem er das fertige Album gehört hat - er fand sich darin nicht mehr wieder.
Volksstimme: Spielen Sie live jetzt nur noch zu viert - also die drei Brüder mit Keyboarder Andreas Sperling?
Leisegang: Nein. Wir haben zwei Gitarristen abwechselnd als Gäste dabei: Lars Kutschke aus Dresden und Martin Weigel. Ob einer von ihnen später festes Mitglied von Keimzeit wird, wird sich zeigen. Wir wollten sie nicht gleich für uns "verhaften", wir sind nun mal eine gewachsene Band mit einem bestimmten Kodex und mit Mechanismen. Dass wir überhaupt 30 Jahre lang zusammengeblieben sind, dass es immer noch zwischen uns funzt, das betrachte ich als großes Glück.
Volksstimme: Blicken wir mal auf die Bandgeschichte zurück: Als Sie 1982 in einem Schreiben an die Kulturabteilung des Rates des Bezirkes Potsdam den Antrag gestellt haben, die Band von "Jogger" in "Keimzeit" umzubenennen, haben Sie das mit Ihrer musikalischen Entwicklung begründet. Ist der Bandname nicht ein kühnes Versprechen - ewige Entwicklung, wie ewiger Frühling?
Leisegang: Der eigentlich Hintergrund war 1982 ein neues Selbstbewusstsein: Ich wollte deutsche Texte schreiben, der Bandname sollte so klingen wie die NDW-Bands, die damals angesagt waren, etwa Extrabreit oder Fehlfarben.
"Dass wir dann den Zeitgeist getroffen haben, war purer Zufall."
Volksstimme: Sind Sie auch auf der Neuen Deutschen Welle mitgeritten?
Leisegang: Wir hatten tatsächlich einige Titel in der Art, aber unsere bluesigen Lieder blieben beim Publikum damals besser hängen.
Volksstimme: Nach der Wende hat "Keimzeit" für viele Fans im Osten den Soundtrack zur neuen Reisefreiheit geliefert, mit Stücken wie "Amsterdam", "Singapur" oder "Kling Klang". Wann sind diese Stücke eigentlich entstanden?
Leisegang: Schon lange vor der Wende. Ich bin immer gerne gereist, war oft auf dem Balkan unterwegs - und die Reise-Defizite habe ich mit meinen Texten ausgefüllt. Dass wir dann so stark den Zeitgeist getroffen haben, war purer Zufall, das kann man nicht am Reißbrett planen. Heute sind es Bands wie Kraftklub aus Chemnitz, die für ihre Generation sprechen.
Volksstimme: Mitten in Bandgeschichte haben Sie 1998 ein riskantes Manöver vollzogen: Seit dem Album "Im elektromagnetischen Feld" haben Sie auf einen härteren Sound gesetzt - und einige Fans verloren. Wie fällt das Fazit aus?
Leisegang: Ich habe dadurch ein neues Feld fürs Songschreiben gefunden, denn Stücke wie "Singapur" konnte und wollte ich nicht mehr schreiben. Doch dabei haben wir auf einen Sound gesetzt, der der Band eigentlich nicht eigen ist und den wir live anfangs gar nicht richtig bewältigen konnten. Mit "Kolumbus" haben wir wieder etwas gegengesteuert.
Volksstimme: Sie begrüßen im Titelstück die Weltentdecker, stechen mit Kolumbus in den Ozean. Wie kommt es eigentlich, dass ihr als Landratten so gern vom Meer singt?
Leisegang: Weil wir Landratten sind! Ich fahre in der freien Zeit aber wirklich gern an die Ostsee, das Studio in Andalusien war nur zehn Kilometer vom Meer entfernt.
Volksstimme: Ein anderes neues Stück besingt einen lässigen "Generalstreik". Glauben Sie, dass die Leute es cool finden, wenn die Bahnen still stehen und der Müll liegen bleibt?
"Wir zicken nicht mehr so stark rum und lassen den Dingen ihren Lauf."
Leisegang: In "Streik" steckt viel Ambivalenz. Produzent Paul Grau hat sich lange gegen das Stück gesperrt, hielt es für eine Verhohnepipelung der Werktätigen. Mir ging es eher darum: Ich habe wochenlang nur Leute getroffen und gehört, die unzufrieden waren mit dem, was sie taten, die eigentlich lieber etwas ganz anderes tun wollten. Deshalb hab ich mir einen Streik aufgrund der allgemeinen Unzufriedenheit ausgemalt.
Volksstimme: Mein Favorit ist das Titelstück "Kolumbus" - das könnte ein neuer Keimzeit-Klassiker werden! Sie haben sich live lange dagegen gesperrt, wenn Fans immer wieder dieselben Titel wünschten. Wie gehen Sie heute damit um?
Leisegang: Wir zicken nicht mehr so stark rum, sind heute einfach glücklich, wenn die Leute solche Favoriten haben und lassen den Dingen ihren Lauf. Wenn wir "Flugzeuge ohne Räder" spielen, wird es ganz still im Publikum, zieht plötzlich Frieden ein. Manche Songs entwickeln ihren Zauber langsam: Mit "Projektil" von 1998 passiert jetzt das Gleiche wie mit "Flugzeuge ohne Räder" oder "So". Manche Lieder verbinden mittlerweile Generationen.
Volksstimme: Einen Hit von früher gibt es jetzt als Kinderbuch ...
Leisegang: Ich hab mich sehr darüber gefreut, welche Bilderwelten die Malerin Martha Irene Leps für "Mama, sag mir warum" gefunden hat. Genauso viel Spaß macht mir das Trickfilm-Video zu "Kolumbus", das wir live auf die Bühne projizieren werden. Ich gucke gerne mal in andere Gewerke rein.