TV-Tipp Magdeburger „Polizeiruf 110“ zwischen Angst und Lüge
Ein Kind verschwindet. Die Suche reibt die Beteiligten auf. Sie führt auch in menschliche Abgründe - und macht Hauptkommissarin Brasch im neuen „Polizeiruf 110“ aus Magdeburg zu einer emotional Getriebenen.
Magdeburg - „Ronny ist weg.“ Nahezu emotionslos spricht dessen Mutter Sabine Hartwig (Ceci Chuh) diese Worte an einem frostigen Winterabend zu ihrem Freund. Gerade noch hat sie mit ihrem Sohn, der wegen ihrer früheren Drogenabhängigkeit seit Jahren in einem Kinderheim lebt, dessen Geburtstag gefeiert. Dann gibt es Streit mit ihrem despotischen, aggressiven Lebensgefährten (Oskar Bökelmann), der den zehnjährigen Jungen ablehnt. Ronny verschwindet - und lässt eine völlig phlegmatische Mutter, ihren desinteressierten Partner und besorgte Heimmitarbeiter zurück.
Das Erste zeigt die neue Folge „Ronny“ des „Polizeiruf 110“ aus Magdeburg am Sonntag (19. März) um 20.15 Uhr. Regie führt Barbara Ott nach einem Drehbuch von Jan Braren. Der erste Sonntagabendkrimi der 1983 geborenen Regisseurin ist für den 19. Deutschen Fernsehkrimi-Preis nominiert, der an diesem Freitag in Wiesbaden verliehen wird. Braren war auch für das Drehbuch zur Folge „Der Verurteilte“ des Magdeburger „Polizeirufs 110“ verantwortlich und wurde dafür 2021 mit dem Deutschen Fernsehkrimi-Preis belohnt.
Ermittlungen werden zur Nervensache
Die Suche nach dem Kind wird für Hauptkommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen), Kriminalrat Uwe Lemp (Felix Vörtler) und Kriminalobermeister Günther Márquez (Pablo Grant) zur Nervensache. Die ersten Verdächtigen sind mit Mutter und Freund schnell gefunden. Doch dann gerät der Heimbetreuer Matthias Precht (Thomas Schubert) ins Visier, denn ein ungehöriger Verdacht macht die Runde. Ist der gebürtige Österreicher, der mit Heimkindern gern mit dem Boot raus auf die Elbe zum Angeln fährt, ein Pädophiler?
Das sagt jedenfalls der maulfaule, ewig zockende Gordon Kleinschmidt (Valentin Oppermann). „Der Typ wanzt sich an Kinder ran“, sagt er einmal fast beiläufig zu seiner Mutter. Der Sohn der Heimleiterin behauptet, früher selbst von Precht auf Angeltouren sexuell belästigt worden zu sein und brandmarkt den völlig entsetzten Betreuer nachhaltig. „Ich bin der einzige in dem Laden, der sich kümmert. Dir sind die Kinder doch scheißegal in Wirklichkeit, du bist eine Bürokratin“, schreit er Gordons Mutter ins Gesicht, als sie ihn feuert. Doch wie glaubhaft ist der Jugendliche, der Ronny am Abend seines Verschwindens nach eigener Aussage noch gesehen und gesprochen haben will?
Einiges passt nicht zusammen. Viel zu gern berichtet der blasse Teenager von den mutmaßlich sexuellen Übergriffen, scheint keine Scham zu haben. Und während Ronny weiterhin bei Minusgraden unauffindbar ist, geraten alle in den Gewissenskonflikt, wie mit Gordon als möglichem Opfer sexueller Gewalt umzugehen ist.
Brasch ermittelt übermotiviert, aber dünnhäutig. Sie wird durch den Fall mal wieder mit der Existenz ihres eigenen Sohnes und der eigenen Kindheit in einem Heim konfrontiert. Auch ein alter Fall um ein verschwundenes Kind reibt alle Beteiligten auf. Nachdem sie und Lemp den verdächtigen Heimmitarbeiter während eines Verhörs in die Mangel genommen haben, ist da wieder dieses Bauchgefühl. „Er war es nicht“, sagt sie danach zu ihrem völlig verdutzten Chef, für den alles prima zusammenpasst.
Zerrüttete Verhältnisse und heile Welten
„Ronny“ ist ein Kriminalfall, der tief in die Beteiligten eindringt, sie fordert und teils an ihre Grenzen bringt. Vom Magdeburger Stadtbild ist fast nichts zu sehen, die Geschehnisse verlagern sich ins Umland. Alles wirkt authentisch, der Zuschauer taucht dank sehr guter schauspielerischer Leistungen in zerrüttete Familien und scheinbar heile Welten ab.
Herausragend ist Ceci Chuh als leidende Mutter, die nach ihrer überstandenen Drogensucht darum kämpft, ihren Sohn wieder aus dem Heim zu holen. Valentin Oppermann gelingt die absolut glaubhafte Darstellung eines verschlossenen, aber sadistischen Jugendlichen, der nur spricht, was er muss und lieber Ballerspiele spielt.
Die Schlüsselszene ist die letzte des Films. „Ich weiß, dass ich eigentlich traurig sein sollte, aber ich bin's nicht“, sagt Gordon zu Brasch und kann sich dabei ein hämisches Dauergrinsen nicht verkneifen. „Ich find's sogar irgendwie 'n bisschen lustig.“ Ein Moment, irgendwo zwischen Mitleid, Wut, Hilflosigkeit und Trauer.