TV-Tipp Sein letzter Fall führt Adam Raczek an den Abgrund
Im neuen „Polizeiruf 110“ von der deutsch-polnischen Grenze geschieht ein grausiger Mord in der Lausitz. Kommissar Raczek will seinen letzten Fall rasch lösen. Doch das wird ein harter Brocken.
Cottbus/Frankfurt - Eine junge Frau rennt panisch durch einen Wald um ihr Leben. Ein seelisch angeschlagener Kommissar verschläft einen wichtigen Einsatz. Und in einem kleinen Lausitzer Dorf verbirgt sich hinter verschlossenen Türen ein schreckliches Geheimnis. „Abgrund“ heißt die neue Episode der Reihe „Polizeiruf 110“. Sie bietet auf den ersten Blick traditionelle Unterhaltung mit gewohntem Spannungsbogen. Und doch bricht diese Geschichte die klassischen Konventionen des Krimis auf.
Das Erste zeigt den Fall von der deutsch-polnischen Grenze am Sonntag um 20.15 Uhr. Für TV-Kommissar Adam Raczek (Lucas Gregorowicz) ist es der letzte Fall.
Die polnische Geologin Magdalena Nowak wird tot in einem Waldstück am Rande eines ehemaligen Lausitzer Tagebaus gefunden - offensichtlich mit einer Plastiktüte erstickt. Der Ermittler Adam Raczek und sein Partner Vincent Ross (André Kaczmarczyk) quartieren sich während ihrer Ermittlungen in einem nahe liegenden Dorf ein, um die Bewohner zu befragen und den Täter mit ihrer Anwesenheit unter Druck zu setzen. Auch ein Sexualverbrechen halten sie für möglich.
Unter Verdacht
Die Geologin arbeitete an einem Bodengutachten zur Renaturierung des ehemaligen Abbaugebiets, das touristisch erschlossen werden soll. Durch Flutung soll dort einer der größten künstlichen Seen entstehen. Die Kommissare finden heraus, dass ihre Untersuchung so gut wie abgeschlossen war. Die Einschätzung zu geplanten Ufergrundstücken fällt schlecht aus - ein Schlag für den Freund der ermordeten Geologin, Tom Grabowski (Patrick Kalupa). Mit dem Gutachten wäre sein langgehegter Traum einer Surfstation am neuen See begraben.
Wollte jemand die Ergebnisse der Untersuchung beeinflussen? Auch der langjährige Pfarrer des Dorfes, Simon Bredow (Steven Scharf), der seit langem die schrumpfende Gemeinde betreut, gerät in Verdacht.
Adam wirkt bei den Ermittlungen abwesend und betäubt seine eigenen Dämonen einmal mehr mit Tabletten. Vincent hat die Nase voll vom unkonzentrierten Kollegen und dessen Alleingängen. „Zusammenarbeit kommt von zusammen arbeiten“, erklärt er Raczek. Adam will den Fall schnell lösen und wird bei Zeugenbefragungen rabiat. Vincent durchschaut Adams Orientierungslosigkeit und Verletzlichkeit. Dann wird unweit des ersten Tatorts eine weitere Leiche entdeckt.
Gedreht wurde im April dieses Jahres unter anderem bei Lichterfeld. Kulisse bot die riesige Abraumförderbrücke F60 am Bergheider See, die heute Industriedenkmal ist - auch bekannt als „liegender Eiffelturm der Lausitz“. André Kaczmarczyk hatte bei den Dreharbeiten mit seiner Höhenangst zu kämpfen, wie er der Deutschen Presse-Agentur erzählt. „Das war gar nicht meins.“ Regisseur Stephan Rick und Kameramann Felix Cramer fangen die verwundete Landschaft überzeugend ein.
Die neue „Polizeiruf“-Folge aus dem Brandenburgischen ist durchaus ein Krimi im klassischen Sinne. Es gibt ein Opfer, zwei ermittelnde Kommissare auf Motivsuche und am Schluss einen gelösten Fall. Viel deutlicher als in anderen Episoden sind aber die Charaktere der Ermittler gezeichnet, was dem Film sehr gut tut. Ideen dazu kamen von den beiden Hauptprotagonisten. „Wir haben etliche Momente und Dialoge am Set geschaffen, die noch viel mehr etwas über Vincent und Adam erzählen. Die Vorlage hatte das in dieser Ausdifferenzierung so nicht hergegeben“, macht Schauspieler Kaczmarczyk deutlich.
Seine Figur Vincent ist frei von einem klassischen Rollenverständnis und Berührungsängsten. Frau, Mann, divers, egal - das ist für seine Kollegen gewöhnungsbedürftig. Auch Adam hält Vincent auf Abstand.
Lucas Gregorowicz nimmt nach zwölf Jahren seinen Hut
Für Ross und Raczek gehen mit dieser Episode die gemeinsamen Ermittlungen zu Ende, noch bevor sie richtig begonnen haben. Lucas Gregorowicz verlässt nach zwölf Jahren den „Polizeiruf 110“. „So einen Partner zu finden, ist selten. Das letzte Mal hatte ich das Glück mit Moritz Bleibtreu vor 20 Jahren“, schwärmt er. Er gehe, weil die Kluft zu groß geworden sei zwischen dem gefühlten Potenzial und dem, was in Krimistrukturen möglich ist. Gregorowicz sieht eine Parallele zur Figur Adam und dessen Abgang. „Tristesse und Aussichtslosigkeit der Settings und der Stoffe wollte ich nicht mehr.“
Kaczmarczyk stimmt in die Kritik mit ein und plädiert dafür, sich auch mal wegzubewegen von der traditionellen Erzählweise. „Warum muss der Krimi immer mit einer Leiche beginnen? Warum bleibt ein Kriminalfall nicht auch mal ungelöst? „Wenn man diese Traditionen nicht sprengt, brauchen wir uns nicht wundern, dass diese Formate einer gewissen Gleichförmigkeit unterliegen.“