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Frank Castorf inszeniert „Kleiner Mann – was nun? Wir schweben in Angst

Frank Castorf bringt Falladas Bestseller „Kleiner Mann – was nun?“ als Sozial- und Polittragödie auf die Bühne des Berliner Ensembles. Am Ende lässt sich der Nestor feiern.

Von Uwe Kreißig Aktualisiert: 19.09.2024, 09:45
Castorf kann in „Kleiner Mann – was nun?“ am Berliner Ensemble auch surreal: wenn der Malocher (Andreas Döhler) mit dem E-Dreirad kommt und seine Kuh vor Artemis Chalkidou  auf der Brecht-Bühne ablädt.
Castorf kann in „Kleiner Mann – was nun?“ am Berliner Ensemble auch surreal: wenn der Malocher (Andreas Döhler) mit dem E-Dreirad kommt und seine Kuh vor Artemis Chalkidou auf der Brecht-Bühne ablädt. Foto: imago

Berlin / VS - Groß prangt Picassos (Friedens)Taube, aber jene von 1947, auf dem Bühnenvorhang, bis er sich hebt. Dann gehen die sieben Akteure auf einen mittelgroßen, roten Vorhang zu und reißen den Stoff von einer Wand herunter. Eine leicht strukturierter, schwarzer Wall wird sichtbar. Die eingerollte rote Fahne räumen sie wie einen Leichnam weg. Damit ist das Spielset klar für Frank Castorfs Bühnenfassung von Falladas „Kleiner Mann – was nun?“, die am Sonnabend ihre fünfstündige Premiere am Berliner Ensemble erlebte.

Natürlich bekommen wir den Plot des Bestsellers in groben Zügen geboten, die Geschichte um den bald schon arbeitslosen Angestellten Johannes Pinneberg und seiner Frau Emma, dem Lämmchen, die ungeplant schwanger wird. Es ist 1930, die Zeit der Weltwirtschaftskrise und der politischen Radikalisierung in Deutschland, in der die Nationalsozialisten und die von Stalin gelenkten Kommunisten jeder für sich die Machtergreifung planen.

Natürlich steht Castorf auf der Seite des kleinen Mannes, der auch heute augenblicklich sozial abstürzen kann: Denn das Bürgergeld ist für jemanden, der immer im Beruf war, das Ende des selbstbestimmten Lebens, zu dem eben die Arbeit bis zur Rente dazugehört. Den Abstieg vor Augen heißt es bei Castorf: „Wir schweben in Angst.“

Es sind Variationen einer allgegenwärtigen Krise (die auch die weitgehend ideologisierte Kunstszene erfasst hat), in der die Deutschen das Gefühl haben, dass sich ihre Nation auflöst und ihr altes Land mit den Gewissheiten von innerer Sicherheit und Wohlstand sowieso. Den ganzen Abend heißt es folglich „Rot und Schwarz“. Es gibt die Lieder („Der kleine Trompeter“ oder „Nie wieder Kokain“) und die Verschneidungen, dieses Mal aus der „Schlacht“ von Heiner Müller.

Wer hat uns verraten?

Das Ensemble lässt Castorf in gewohnter Weise herumpöbeln. Vom „Nazi Lauterbach“ (das war eine Figur aus der Erstfassung des Romans) ist zu hören, von „Olaf dem Schürzenjäger. Später wird die Frage gegrölt: „Wer uns verraten? Und die Antwort kreischt in den Saal: „Sozialdemokraten. Wer war mit dabei? Die grüne Partei.“

Das muss wohl sein Statement zur Regierung sein, der die Sorgen der Malocher, der Polizisten, der kleinen Händler oder der Lehrer an den Brennpunktschulen offenbar egal sind, die lieber mit platten Durchhalteparolen und Verzweiflungsvolten regiert, und deren Galionsfiguren den Angstträgern zuflüstern: Noch einmal, nein, noch zweimal oder vielleicht siebenmal müsst ihr richtig wählen, dann wird bald alles gut.

Es ist die Abrechnung mit der Kaste der Apparatschiks (die auch Transferempfänger sind), was im Hochsubventionstheater etwas anmaßend wirkt, aber Castorf lässt man diesen Widerspruch immer noch durchgehen.

In Szenen hocken die Schauspieler unter der Drehbühne, die für die Welt steht, und bekommen nicht mehr mit, wie über ihnen entschieden wird, auch wenn sie nach oben horchen. Und die Drehbühne dreht sich, gelagert auf unzerstörbaren Panzerlaufrädern vom T-34, die Helene Weigel angeblich Sowjet-Offizieren nach dem Krieg abluchste. Später suchen die glorreichen Sieben – und das sind sie wirklich – ein letztes Mal Schutz unter der roten Fahne, die nicht mehr viel Platz bietet, und scheitern verzweifelt.

Keinen Zweifel mehr

„Ich will euch ja nicht auf den Sack gehen. Aber ein deutliches Mal fühle ich mich in diesen Jahren, nach so vielen Inszenierungen, ganz im Einklang mit mir. Es gibt keine Zerrissenheit, keinen Zweifel mehr … Ich bin wirklich glücklich“, lässt Castorf die anwesenden Berliner Journalisten, denen er mehrheitlich immer verdächtig vorkam, über einen der Herolde kurz vor Schluss wissen.

Der Abend wird nicht ganz so lang wie sein Abschied von der Volksbühne mit „Faust I und II“; das war 2017. Zum Beifall gibt es keine Buhs mehr. Die Spielhelden des Abends – das sind wohl eindeutig Andreas Döhler und Artemis Chalkidou – holen sich den Applaus ab, wobei überhaupt niemand vom Team abfällt.

Der Berliner Nestor – das ist Castorf nun mit 73 nach dem Abtritt Peymanns – betritt glücklich die Brecht-Bühne und man sieht ein bisschen, dass er seine große Wiederkehr vorab gefeiert hat. So ist das Leben.