Gesellschaft Alltägliche Gewalt: Wie werden junge Frauen sicherer?
Belästigung auf der Straße, ungefragt zugesendete Nacktfotos: Die meisten jungen Frauen in Deutschland haben Erfahrung damit, zeigt eine Umfrage. Viele fühlen sich alleingelassen. Was ein Experte rät.

Sulzbach/Mainz - Fast jede Frau bis 35 Jahre hat in der Öffentlichkeit bereits Belästigung oder Übergriffe erfahren. Das zeigt eine aktuelle Umfrage.
Gewalt gegen Frauen sei „eine tägliche Bedrohung für die Hälfte der Bevölkerung“, so Ulrich Warncke, Anwalt und Präventionsbeauftragter der Opferschutzorganisation Weißer Ring. Viele Betroffene fühlen sich mit dem Problem alleingelassen – und schränken sich aus Angst ein. Auch das ist ein Ergebnis der repräsentativen Befragung.
92 Prozent haben Belästigung oder Übergriffe erlebt
Für den „Un_Safe Spaces Report“ wurden im Auftrag des Kosmetikunternehmens cosnova 1.501 Frauen zwischen 18 und 35 Jahren durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa befragt. Die Zahlen:
- 92 Prozent der Frauen zwischen 18 und 35 Jahren haben bereits Belästigung oder Übergriffe erlebt, fast zwei Drittel von ihnen fühlten sich durch diese Vorfälle einmal oder mehrmals ernsthaft bedroht
- 55 Prozent wurden gegen ihren Willen berührt, betatscht oder geküsst.
- 40 Prozent wurden ungefragt mit Nacktbildern oder pornografischen Inhalten konfrontiert.
- Jede Dritte wurde verfolgt, sexuell bedrängt oder bedroht.
- 10 Prozent der Befragten vermuten, dass ihnen schon einmal K.-o.-Tropfen verabreicht wurden.
Laut der Studie haben 61 Prozent der betroffenen Frauen zumindest einige der Übergriffe ignoriert - aus Unsicherheit über eine angemessene Reaktion oder auch, weil sie glaubten, dass eine Reaktion nichts bringt, oder das Geschehene nicht schwerwiegend genug war.
Nur knapp ein Viertel der betroffenen Frauen hat sich in einer oder mehreren Situationen getraut, den Täter direkt zu konfrontieren. Nur 8 Prozent stellten Strafanzeige, von rechtlichen Konsequenzen für den Täter berichteten nur 2 Prozent.
82 Prozent der Frauen gaben an, dass sie ihr Verhalten im öffentlichen Raum aus Angst vor Übergriffen anpassen: Sie meiden bestimmte Orte, ändern ihre Kleidung oder unternehmen bestimmte Aktivitäten nur noch in Begleitung.
Rund drei Viertel der jungen Frauen (74 Prozent) finden, dass Gewalt gegen Frauen in Deutschland nicht ernst genommen wird, 28 Prozent fühlen sich nicht ausreichend über Gewalt gegen Frauen informiert und aufgeklärt.
Was Betroffene tun können: Vorbeugung und Hilfe
Auch wenn es nicht allein ihre Verantwortung sein sollte – Frauen müssen sich oft selbst schützen, so Ulrich Warncke. Der Präventionsexperte empfiehlt:
- Gefahren früh erkennen und vermeiden: Ein sicheres Auftreten, das Beachten des Bauchgefühls und die Wahl sicherer Wege können das Risiko von Übergriffen reduzieren
- Aktiver Selbstschutz: Selbstverteidigungskurse und Kampfsportarten können Frauen und Mädchen zum einen darin unterstützen, selbstbewusst und sicher aufzutreten, und zum anderen befähigen sie sie dazu, sich besser selbst zu schützen
- Aufmerksam machen: Wer sich bedrängt fühlt oder einem Gewaltrisiko ausgesetzt ist, sollte andere Passanten lautstark auf die Situation aufmerksam machen und Blickkontakt zu Umstehenden aufnehmen. Auch ein „Schrill-Alarm“ kann helfen - gemeint sind Taschenalarmgeräte.
- Gesundes Misstrauen gegenüber Fremden, insbesondere bei Internetbekanntschaften: Zunächst an einem neutralen Ort treffen, jemanden mitnehmen.
- In der Gruppe bleiben: „Mit Freundinnen ausgehen, heißt auch, gemeinsam wieder nach Hause fahren“, so Warncke.
- Zu viel Alkohol vermeiden: Er erhöht die Risikobereitschaft und macht wehrlos.
- Vorsicht vor K.-o.-Tropfen: Keine Getränke von Fremden annehmen. Selbst bestellte Getränke sogleich austrinken, und sie nicht zwischendurch abstellen, um zu tanzen oder auf die Toilette zu gehen. Warncke warnt: Oft werden K.-o.-Tropfen auch nicht von Fremden verabreicht, sondern „vom Partner, der auf diese Weise sexuelle Bedürfnisse durchsetzen möchte“.
Und was, wenn etwas passiert ist?
Unbedingt aktiv werden, so Warncke: Bei Straftaten oder auch beim Verdacht auf Straftaten Anzeige bei der Polizei erstatten. Und: „Wer Opfer akuter oder langfristiger Gewalttatsituationen ist – auch im häuslichen Bereich – sollte sich an Beratungsstellen, Notrufzentralen und Frauenhäuser wenden.“
- Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 116 016, anonym und kostenlos rund um die Uhr erreichbar, auch online unter www.hilfetelefon.de
- Weißer Ring: Die Opferschutzorganisation bietet telefonische (116 006; 7-22 Uhr), Vor-Ort- und Mail-Beratung, online unter www.weisser-ring.de
- Frauenhäuser und Beratungsstellen unterstützen und bieten Schutz, eine regionale Suche gibt es etwa beim Verein Frauenhauskoordinierung (www.frauenhauskoordinierung.de)
Alle Menschen sollten mehr über rechtliche Rahmenbedingungen wissen, so Warncke. Etwa über das Recht auf Schutzmaßnahmen wie Kontaktverbote oder den Straftatbestand öffentlicher Übergriffe. Auch Catcalling sei strafbar - also sexuell anzügliche Rufe, Pfiffe oder Gesten.
Was können alle für mehr Sicherheit tun?
Gewalt gegen Frauen ist kein „Frauenthema“, im Gegenteil. Daher sei es wichtig, über Gewalt gegen Frauen zu sprechen und jeglicher Form der Übergriffe und Grenzüberschreitungen gezielt entgegenzutreten, so Warncke. Dass Frauen sich sicherer fühlen und sicher sind, dafür sollten alle Verantwortung übernehmen, also auch Männer.
Der Fachmann plädiert dafür, schon bei den Denkmustern anzusetzen: „Gewalt gegen Frauen ist kein Zeichen von Männlichkeit, sondern ein Zeichen von Schwäche. Starke Männer schützen Frauen.“ Etwa, wenn sie erleben, wie andere übergriffig oder gewalttätig gegen Frauen werden.
Das rät der Experte des Weißen Rings allen, die Zeuge von Gewalt gegen Frauen werden:
- Laut auf die Situation aufmerksam machen und versuchen, andere mit zur Unterstützung heranzuziehen. „Bringen Sie die Frau aus der Gefahrensituation heraus, aber sprechen und greifen Sie den Täter selbst nicht an.“
- Notruf 112 wählen
- Merken Sie sich Aussehen und Kleidung des Täters für spätere Zeugenaussagen
Was ist bei digitalen Übergriffen ratsam?
Laut Warncke ist digitale Gewalt genauso ernst zu nehmen wie physische Übergriffe. Er empfiehlt:
- Kommentar dalassen: „Wer in Social Media sieht, dass Frauen beleidigt oder belästigt werden, sollte sich solidarisch zeigen. Einfache Kommentare wie "Das geht gar nicht!" oder "Lass sie in Ruhe!" setzen ein Zeichen.“
- Melden: Plattformen wie Instagram, TikTok & Co. haben Meldefunktionen für digitale Gewalt. „Wer so etwas sieht, sollte es melden, damit der Account des Täters gesperrt wird.“
- Bescheid sagen: „Wenn intime Bilder ohne Zustimmung verbreitet werden, sollte man nicht nur die Plattform informieren, sondern auch die Betroffene - oft wissen Frauen gar nicht, dass sie Opfer digitaler Gewalt geworden sind.“