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Einzelkind Verwöhnt und egoistisch - wirklich? Das sind die Tipps einer Familienberaterin

Familien mit einem Kind gelten als unvollkommen, Einzelkinder als verwöhnt. Was an den Vorurteilen dran ist, erklärt Familienberaterin Anna Hofer und gibt Eltern Tipps.

Von Leonie Schulte Aktualisiert: 07.01.2025, 15:58
Der Trend geht zum Einzelkind. Aber wie gut ist die Erziehung ohne Geschwister?
Der Trend geht zum Einzelkind. Aber wie gut ist die Erziehung ohne Geschwister? (Foto: Imago/PantherMedia)

Einzelkinder gelten oft als Prinzen und Prinzessinnen der Familie – verwöhnt, egoistisch, einsam. Aber was bleibt von diesen Klischees, wenn wir sie mit wissenschaftlichen Fakten abgleichen?

Anna Hofer, Jahrgang 1979, unterstützt seit zehn Jahren Familien in der psychologischen Beratung. Ausgebildet in der Gesprächspsychotherapie, begleitet sie Mütter und Väter bei ihrer Elternschaft. Sie ist als Einzelkind aufgewachsen und selbst Mutter eines Einzelkindes und kennt das häufige Unverständnis und die Frage nach Geschwistern, wann immer ihr Einzelkind zur Sprache kommt (Mein fabelhaftes Einzelkind, Penguin, 23.10.2024). Leonie Schulte hat mit ihr gesprochen.

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Frau Hofer, woher kommen diese Vorurteile?

Anna Hofer: Diese und viele weitere Klischees haben einen historischen Ursprung. In einer sehr subjektiven sozialpsychologischen Fragebogenstudie aus dem Jahr 1896 zum Beispiel wurden Einzelkinder als seltsam und eigenartig beschrieben.

"Und die NS-Zeit mit ihrem Mütter- und Familienkult hat die Sicht auf Einzelkinder nicht besser gemacht."

Anna Hofer

Und die NS-Zeit mit ihrem Mütter- und Familienkult hat die Sicht auf Einzelkinder nicht besser gemacht. Es war ein Familienkonstrukt, das als fehlerhaft galt. Erst in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts schafften es Forschende mit ihren Studien, einen positiven wissenschaftlichen Beitrag zu Einzelkindern zu leisten.

Wir sind also kritisch mit Einzelkindern, weil wir ein bestimmtes Bild einer Familie haben?

Anna Hofer: Genau. Die Norm ist, zwei Kinder zu haben. Bei einem Kind heißt es „Für mehr hat’s nicht gereicht“, bei mehr als zwei Kindern werden Eltern gefragt, warum sie so viele Kinder bekommen haben. Dabei bilden Einkindfamilien die zweitgrößte Gruppe unter den Familien in Deutschland. Die größte sind Familien mit zwei Kindern. Im einstelligen Bereich liegen Familien mit drei und mehr Kindern.

Entscheiden sich Eltern bewusst dafür, nur ein Kind zu bekommen?

Anna Hofer: Es gibt natürlich Einkindeltern, die sich als Familie komplett fühlen. Es gibt aber auch Mütter und Väter, die mit dem Gedanken in die Elternschaft gestartet sind, mehrere Kinder zu bekommen, was biologisch nicht möglich war. Das kann ganz schön überfordern.

Es sind Träume von Lebensentwürfen, die da zerplatzen. Ich finde es wichtig, dass gerade diese Eltern Entlastung erfahren. Denn viel zu oft quälen sie sich zusätzlich noch mit dem Gedanken, dass ihrem Einzelkind etwas Eklatantes fehlen könnte.

Sie haben frühe Studien zum Thema Einzelkinder angesprochen. Was sagt denn die aktuellere Forschung: Sind Einzelkinder wirklich egoistischer als die mit Geschwistern?

Anna Hofer: Nein, das sind sie nicht. Schon in den 1980er-Jahren haben Forscherinnen wie Toni Falbo oder Judith Blake viele Studien und Metastudien dazu gemacht und keine signifikanten Unterschiede zwischen Einzelkindern und Kindern, die mit Geschwistern aufgewachsen sind, gefunden.

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2015 forschte auch Michael Dufner mit seinem Team an der Universität Leipzig zu diesem Thema und fand heraus, dass es keine Hinweise auf einen stärker ausgeprägten Narzissmus bei Einzelkindern gibt. Ob ein Mensch narzisstisch ist oder wird, hängt von anderen Faktoren als der Anzahl der Geschwister ab.

Welche Faktoren sind das?

Anna Hofer: Erbliche Komponenten spielen ebenso eine Rolle, wie die Ausprägung des Temperaments, das uns in die Wiege gelegt wurde. In der Zusammenfassung seiner Studienergebnisse schreibt Dufner deshalb auch, dass „aus ungerechtfertigten Gründen als stark narzisstisch wahrgenommen zu werden, eine Belastung darstellt, die zu einer Diskriminierung von Einzelkindern in allen Lebensbereichen führen kann.“

Gibt es überhaupt etwas, bei dem man sagen kann: typisch Einzelkind?

Anna Hofer: Diesen Satz hört man leider noch sehr oft. Gemeint ist, dass sie egoistisch, verwöhnt und ichbezogen seien. Die Studien zeigen ja, dass das so nicht stimmen kann. Wenn überhaupt gibt es leichte Hinweise darauf, dass man den Spieß einfach umdrehen kann. Ich würde dann sagen: Typisch Einzelkind, denn es schätzt besonders den Wert von Freundschaft und ist deshalb diplomatisch und kompromissbereit.

Hat es also auch Vorteile, ein Einzelkind zu sein?

Anna Hofer: Eltern von Einzelkindern haben tatsächlich mehr Ressourcen, zeitlich und finanziell. Davon profitieren Kinder. Wichtig ist für Kinder generell eine sichere und liebevolle Bindung an ihre Eltern. Und ja, Einzelkinder pflegen oft eine enge Beziehung zu ihren Eltern.

Es geht mir nicht darum, Einzel- und Geschwisterkinder gegeneinander auszuspielen. Mir ist wichtig klarzustellen: Es ist keine Katastrophe, als Einzelkind aufzuwachsen.

Hat es denn keinerlei Auswirkungen, wenn ein Kind in einer Welt voller Erwachsener aufwächst?

Anna Hofer: Kinder wachsen ja nicht nur in der Kernfamilie auf. Vor allem in den vergangenen Jahren, in denen die frühkindliche Betreuung außerhalb der Familie so stark zugenommen hat, kommen Kinder sehr früh mit anderen Kindern in Kontakt. So erwachsen ist die Welt von Einzelkindern also nicht.

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Natürlich lernen Kinder soziales Lernen auch durch Interaktion mit anderen Kindern. Aber Geschwister spielen eine geringere Rolle, als man oft vermutet. Und welche Erfahrungen Kinder machen, ob sie etwa auch mal Frust erleben, hängt in erster Linie von den Eltern ab. Wenn mein Kind auf den Spielplatz möchte, ich aber erst die Spülmaschine ausräume, ist auch das ein Erlernen von Frustrationstoleranz.

Es braucht also keine Geschwister, um so etwas wie Grenzen zu erleben. Ohnehin halte ich es für fragwürdig, Geschwister erzieherisch mit an Bord zu holen, um dem Kind zu zeigen: Hier dreht sich nicht alles nur um dich.

Einzelkindern wird oft unterstellt, sich einsam zu fühlen.

Anna Hofer:  Der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit liegt darin, dass wir im Zustand des Alleinseins keinen anderen Menschen in unserer Nähe haben. Alleinsein ist eine bewusste Entscheidung, während Einsamkeit oft mit negativen Gefühlen und dem Empfinden eines Mangels einhergeht. Einzelkinder können oft gut allein sein, fühlen sich aber längst nicht einsam.

Sollten sie trotzdem für Gruppenaktivitäten sorgen?

Anna Hofer: Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster sagt: „Kinder brauchen andere Kinder.“ Das sehe ich genauso. Aber es bedeutet nicht, dass sie dazu unbedingt Geschwister brauchen. Ob es regelmäßige Play-Dates sind, Kinderturnen oder die sozialen Kontakte im Kindergarten – es gibt so viele Möglichkeiten, mit anderen Kindern zusammenzukommen.

Welchen Tipp haben Sie noch?

Anna Hofer: Etwas, was für mich selbst als Einzelkind wichtig war, und was ich bei meinem eigenen Kind pflege, ist der Satz: Besuch ist immer willkommen! Und so leben wir das. Andere Kinder können spontan vorbeikommen, am Nachmittag spielen oder am Wochenende übernachten. Wichtig ist, dass wir als Eltern ein „offenes Haus“ ermöglichen, in dem spontaner Besuch und Verabredungen unserer Kinder kein Problem sind.