1. Startseite
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Familie
  6. >
  7. Familienzeit: Liebe Eltern, Vorlesen ist ein Schlüssel zur Sprachentwicklung

Familienzeit Liebe Eltern, Vorlesen ist ein Schlüssel zur Sprachentwicklung

Vorlesen kann für Kinder und Eltern eine wunderbare Beschäftigung sein. Zum bundesweiten Vorlesetag am 15. November spricht Kira Brahm, erfahrene Logopädin mit eigener Praxis in Barleben, über die Bedeutung des Vorlesens. Wie Eltern durch gemeinsames Lesen die Zukunft ihrer Kinder prägen

Von Ariane Amann 14.11.2024, 15:10

Laut Kira Brahm, Logopädin mit eigener Praxis in Barleben (Landkreis Börde),  ist Vorlesen ein Schlüssel zur Sprachentwicklung und sozialen Reifung von Kindern und sollte ein fester Bestandteil im Familienalltag sein. „Vorlesen ist weit mehr als nur eine schöne Beschäftigung“, betont Brahm. „Es legt die Basis für die sprachliche, emotionale und kognitive Entwicklung und stärkt die Bindung zwischen Eltern und Kind.“

Der Vorlesetag am 15. November, eine Initiative der Stiftung Lesen, setzt darauf, die Bedeutung dieser gemeinsamen Zeit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. „Wir leben in einer Zeit, in der Eltern – aus verständlichen Gründen - häufig von Alltagsstress und Verpflichtungen überwältigt sind. Viele finden kaum noch die Ruhe, mit ihren Kindern regelmäßig zu lesen. Doch gerade diese kleinen, regelmäßigen Momente sind wichtig für die Gesamtentwicklung eines Kindes“, erklärt Brahm.

"Gerade diese kleinen, regelmäßigen Momente sind wichtig für die Gesamtentwicklung eines Kindes."

Der Einfluss des Vorlesens auf die Sprachentwicklung ist gut dokumentiert und wissenschaftlich belegt. Der Vorlesemonitor 2023 beleuchtet die Vorlesepraxis von Eltern in Deutschland und zeigt auf, wie wichtig das Vorlesen für die kindliche Entwicklung ist. Laut der Erhebung lesen 63,4 Prozent der Eltern ihren Kindern im Alter von ein  bis acht Jahren regelmäßig vor, mindestens mehrmals pro Woche. Allerding zeigt sich auch, dass 36,5 Prozent der Kinder in diesem Alter selten oder nie in den Genuss von Vorlesezeiten kommen.

Bildung der Eltern ist entscheidend

Die Studie stellt fest, dass das Bildungsniveau der Eltern einen signifikanten Einfluss auf die Vorlesepraxis hat: Eltern mit höherem Bildungsabschluss lesen ihren Kindern häufiger vor als solche mit niedrigerem Bildungsstand. Zudem wird das Vorlesen stark durch die Vorlesebiografie der Eltern geprägt. Eltern, die selbst in ihrer Kindheit vorgelesen bekommen haben, lesen ihren eigenen Kindern häufiger vor.

Diese Eltern haben oft mehr Kinderbücher im Haus, nutzen regelmäßig Bibliotheken und abonnieren häufiger Zeitungen oder Zeitschriften. Buchgeschenke zeigen eine besonders positive Wirkung auf die Vorleseintensität. Dies gilt vor allem für Eltern mit niedrigerem Bildungsgrad, die häufiger vorlesen, wenn sie Buchgeschenke erhalten.

Der Vorlesemonitor zeigt auch, dass regelmäßiges Vorlesen die sprachliche Entwicklung, das spätere Leseverhalten und den schulischen Erfolg in allen Fächern fördert. Frühere Untersuchungen und Studien der Stiftung Lesen zeigen, dass regelmäßiges Vorlesen positive Auswirkungen auf die Sprachkompetenz, das Textverständnis und das allgemeine schulische Abschneiden hat. Laut Brahm fördert Vorlesen gezielt die Sprachfähigkeit. „Die Kinder erweitern dabei ihren Wortschatz, lernen grammatikalische Strukturen und entwickeln ein besseres Satzverständnis“, erklärt sie.

"Die Kinder erweitern dabei ihren Wortschatz, lernen grammatikalische Strukturen und entwickeln ein besseres Satzverständnis."

Kira Brahm, Logopädin

Darüber hinaus verbessert sich das Konzentrationsvermögen. „Beim Vorlesen müssen die Kinder zuhören, aufmerksam bleiben und die Geschichte im Kopf behalten. Das sind wichtige Grundfähigkeiten, die auch in der Schule gebraucht werden“, betont Brahm. Es geht aber nicht nur um sprachliche Fähigkeiten. „Das Vorlesen bereitet Kinder auch sozial und emotional vor, indem es ihnen hilft, eigene Gefühle wahrzunehmen und die Emotionen anderer zu verstehen.“

Vorlesen schon in der Schwangerschaft

Brahm empfiehlt, so früh wie möglich mit dem Vorlesen zu beginnen – sogar schon in der Schwangerschaft. „Schon ab der 22. Schwangerschaftswoche kann das Baby die Stimme der Mutter hören. Diese frühen Klänge, die Melodie und der Rhythmus, den die Stimme der Mutter transportiert, legen die Basis für das spätere Sprachverständnis“, erläutert sie.

Auch die Art, wie ein Kind später lallt, sei durch die frühe Sprachwahrnehmung geprägt. „Schon bei Säuglingen sieht man, dass die Betonung des Lallens von der Muttersprache beeinflusst ist. Deutsche Babys lallen anders als chinesische Babys, was zeigt, wie tief diese frühen Erfahrungen gehen“, fügt Brahm hinzu.

Auch im Schulalter bleibt das Vorlesen wertvoll. Es unterstützt das Verständnis für die Verbindung von Lauten und Buchstaben – eine wesentliche Fähigkeit beim Lesen- und Schreibenlernen. „Durch gemeinsames Lesen oder das Vorlesen-Lassen vertiefen Kinder ihr Verständnis für die Sprache, und das erleichtert ihnen, später selbstständig zu lesen und zu schreiben“, so die Logopädin.

Gutes Mittel gegen Sprachstörungen

Besonders wichtig ist das Vorlesen für Kinder mit Sprachentwicklungsverzögerungen oder Sprachstörungen. „Das Vorlesen hilft diesen Kindern, indem es bestimmte Laute und grammatikalische Strukturen betont und verstärkt“, erklärt Brahm.

Sie empfiehlt Eltern von Kindern mit sprachlichen Herausforderungen, Geschichten oft zu wiederholen, um das Verständnis zu stärken und die Kinder nicht zu überfordern. „Manchmal helfen kürzere Texte, die speziell auf die Aufmerksamkeitsspanne des Kindes abgestimmt sind“, fügt sie hinzu. Brahm betont, dass es bei der Wahl der Geschichten darauf ankommt, dass die Texte das Interesse der Kinder wecken.

In ihrer therapeutischen Arbeit nutzt Brahm das Vorlesen ebenfalls. „Beim Vorlesen kann ich Laute hervorheben, komplexe grammatikalische Strukturen betonen und die Kinder gezielt in die Geschichte einbinden“, erläutert sie. Die Kinder profitieren zudem davon, indem sie lernen, einem roten Faden zu folgen und den Aufbau einer Geschichte zu verstehen.

Brahm gibt Eltern praktische Tipps, um das Vorlesen noch effektiver für die Sprachentwicklung ihrer Kinder zu gestalten. „Wichtig ist, dass die Eltern langsam und

deutlich sprechen und Gestik und Mimik einsetzen“, rät Brahm. Kinder profitieren zudem von der Interaktion während des Vorlesens. „Fragen stellen oder das Kind bestimmte Wörter nachsprechen lassen, hilft ihm, das Gehörte besser zu verarbeiten. Kinder sollen ruhig Fragen zur Geschichte stellen und sich aktiv einbringen können.“

Leichtere Geschichte für abends

Für den Alltag empfiehlt Brahm, auf die Interessen des Kindes zu achten. Tagsüber können Eltern ruhig komplexere Geschichten vorlesen, bei denen das Kind Fragen stellen und mehr Interaktion zeigen kann. Abends hingegen seien leichtere Geschichten besser, um die Kinder in den Schlaf zu begleiten.

"Wenn wir als Gesellschaft das Vorlesen wieder stärker in den Fokus rücken, geben wir den Kindern nicht nur sprachliche, sondern auch emotionale und soziale Stärke mit auf den Weg."

Kira Brahm

Wie oft und wie lange Eltern vorlesen sollten, sei laut Brahm individuell verschieden. „Es muss nicht jeden Tag eine lange Geschichte sein. Selbst kurze Geschichten oder Comics haben einen positiven Effekt“, meint Brahm. Wenn Eltern aus Zeitmangel nicht täglich vorlesen können, schlägt sie Alternativen wie Hörspiele oder interaktive Bücher vor, warnt jedoch vor digitalen Medien wie Tablets und Handys, bei denen Kinder schnell Ablenkung erfahren können. „Das Wichtigste ist, dass die Kinder lernen, sich auf das Gehörte zu konzentrieren, ohne dabei abgelenkt zu werden“, so Brahm.

Der Vorlesetag soll ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wertvoll das gemeinsame Lesen für Kinder und Eltern ist. „Vorlesen ist nicht nur eine Pflicht, sondern ein Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen. So entstehen wertvolle Momente der Nähe und des Austauschs“, sagt Brahm.

Sie schlägt vor, dass Eltern und Schulen Kindern die Möglichkeit geben, aktiv am Vorleseprozess teilzunehmen, zum Beispiel durch Leseabende, bei denen Kinder ihre eigenen Lieblingsgeschichten vorstellen oder mitbringen können. „Viele Schulen bieten solche Lesenächte schon an, es dürfen aber ruhig noch mehr sein“, sagt die Logopädin augenzwinkernd.

So bietet der Vorlesetag am 15. November die Möglichkeit, das Vorlesen als gemeinsames Ritual in den Alltag zu integrieren. „Wenn wir als Gesellschaft das Vorlesen wieder stärker in den Fokus rücken, geben wir den Kindern nicht nur sprachliche, sondern auch emotionale und soziale Stärke mit auf den Weg“, betont Brahm abschließend.