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Jedes vierte Kind Armut unter Kindern ist in Halle am größten

Armut fällt schon beim Frühstück in der Kita auf, oder wenn das Kind bestimmte Kleidung trägt. Doch auch diese Familien können verdammt gut sein, sagt Autorin Celsy Dehnert.

Von Leonie Schulte 22.10.2024, 09:38
Auch wenn sie es erst später realisieren: Armutsgefährdete Kinder haben es schwerer im Leben.
Auch wenn sie es erst später realisieren: Armutsgefährdete Kinder haben es schwerer im Leben. Symbolfoto: IMAGO

Celsy Dehnert ist in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Bereits mit 14 Jahren wusste sie, dass sie über die Ungerechtigkeiten schreiben wollte, denen sie täglich begegnete. Trotz aller Widrigkeiten machte sie ihr Abitur, schrieb sich in der Uni ein. Mit 26 machte sie sich selbstständig, um ihren Traum, Autorin zu sein, zu leben. Was es bedeutet, in Armut aufzuwachsen, und welche Ängste die zweifache Mutter noch immer nicht loslassen, hat die 34-Jährige im Gespräch mit Leonie Schulte erzählt.

Frau Dehnert, das Gefühl von Armut begleitet Sie ein Leben lang. Wie genau fühlt sie sich an, die Armut?

Armut ist das Gefühl, ein Mensch zweiter Klasse zu sein. Es ist Einsamkeit. Es ist im schlimmsten Fall Hungern und Frieren, weil das Geld nicht für die Heizkosten reicht. Und Armut ist auch immer die Trauer darüber, von außen dabei zuzusehen, wie andere das gute Leben leben.

Sie sind in Armut aufgewachsen. Wann haben Sie begriffen: Wir sind arm?

Richtig klar geworden, dass wir armutsbetroffen sind und dass dies krasse Konsequenzen für mich hat, ist mir das in dem Moment, als ich mit meinem Schulzeug im Bus saß und meine Klassenkameradin fragte, ob ich die Klamotten für die Klassenfahrt im Ranzen hätte. Das war der Tag, als alle auf Klassenfahrt gefahren sind, nur ich nicht.

Warum sind Sie nicht gefahren?

Die Fahrt war direkt nach den Sommerferien zu Beginn der siebten Klasse. Davon wusste ich vorher nichts und meine Eltern hatten mir auch nichts gesagt. Vielleicht aus Scham. Sie hatten sich auch geweigert, das Darlehen vom Förderverein für die Fahrt anzunehmen. Darum blieb mir nichts anderes übrig, als in den Unterricht der Stufe über mir zu gehen.

Und genau das ist es, was Armut für Kinder und Jugendliche bedeutet: Das Gefühl, keine Wahl zu haben, keinen Gestaltungsspielraum, weil es immer die anderen sind, die die Entscheidungen treffen.

Wurde in Ihrem Freundeskreis Ihre Armut thematisiert?

Nein, das war nie Thema. Ich empfand Scham. Und meinen Freundinnen fehlte schlicht die Vorstellungskraft. Meine damalige beste Freundin war Tochter von Zahnärzten. Es gab keine Sprache für das, was unsere Lebensrealitäten so unterscheidet. Und als Kind und Teenager hat man die Tendenz, Dinge, mit denen man nichts anfangen kann, auszublenden.

Der Abstand zwischen mir und meinen Freundinnen wurde mit der Zeit allerdings immer größer. Auch deshalb, weil ich an vielen anderen Dingen in unserem Teenageralltag wie Shoppingtouren oder Partys nicht teilnehmen konnte.

Sie schreiben, Armut falle auf. Woran lässt sich Armut erkennen?

Armut fällt schon beim Frühstück in der Kita auf. Während das klassische Mittelschichtskind zumindest ein geschmiertes Brot, Obst und Gemüse dabei hat, ist es bei armutsbetroffenen Familien manchmal schon viel, wenn überhaupt das Nutella-Brot da ist. Und dann wird sich über die Schokocreme aufgeregt.

Armut fällt auf, indem Kinder nach wie vor nicht mit auf Klassenfahrt fahren können. Wenn sie nicht in einem Fußballverein stattfinden, beim Kinderturnen nicht stattfinden, weil all das mit Kosten verbunden ist. Armut fällt auf, wenn Kinder in kaputter und abgetragener Kleidung in die Kita kommen.

Armut wirkt sich auf Elternschaft also besonders aus?

Kinder zu bekommen, macht viele Eltern und vor allem Mütter einsam, weil das bisherige soziale System auseinanderbricht. Dann gibt es diverse Angebote, die dieser Einsamkeit entgegenwirken können, zum Beispiel Babyschwimmen, Pekip- oder Babyfit-Trage-Kurse. Aber das kostet alles Geld. Und das nicht wenig.

Armutsbetroffene Eltern vereinsamen in ihren eigenen vier Wänden. Und diese sind dann selten in Neubausiedlungen mit Garten und lebendiger Nachbarschaft. Sondern in Randbezirken, an Autobahnen, an Ortsumgehungen und angrenzend an Industriegebieten. Also an Orten, wo weniger soziales und kulturelles Leben stattfindet.

Das heißt: Die Leute sitzen in ihrer Zweizimmerwohnung fest. Mit dem Baby. Und das ist eine andere Art von Einsamkeit und eine andere Art von Armut, weil die Auswirkungen deiner eigenen Armut immer auch eine Bedeutung für die Menschen hat, deren Fürsorge dir anvertraut wurde.

Viele haben von armen Menschen dieses Bild im Kopf: Eltern in kleiner Wohnung, rauchend, desinteressiert. Ein völlig falsches Bild, sagen Sie.

Alleinerziehende sind besonders häufig von Armut betroffen oder Familien mit drei oder mehr Kindern. Es ist die Putzkraft, die wir morgens im Büro treffen, die an der Armutsgrenze lebt. Es ist unser Pflegepersonal, das von Armut betroffen ist. Am Ende des Tages sind Armutsbetroffene nicht nur die Bürgergeldbeziehenden im Plattenbau, sondern Armutsbetroffene sind sehr oft sehr hart arbeitende Menschen.

Wer in Armut aufwächst, trägt diese oft ein Leben lang mit sich. Warum setzt sich Armut bis ins Erwachsenenleben fort?

Zum Beispiel weil Lehrkräfte Kinder aus finanzstarken Haushalten mehr fördern. Weil sie mit dem Vorurteil darangehen, dass Kinder aus armutsbetroffenen Haushalten sowieso nichts aus ihrem Leben machen. Es setzt sich fort, weil sich Kinder aus armutsbetroffenen Haushalten nur selten das Studium leisten können. Oft haben sie nicht einmal die Möglichkeit, einen Abschluss zu machen, der sie dafür qualifiziert, sich selbst langfristig den Lebensunterhalt zu sichern.

Ein Beispiel aus meiner Geschichte: Ich war in der zwölften Klasse, als ich aus meiner Pflegefamilie und damit aus dem Jugendhilfesystem ausschied. Damals standen mir Schüler-Bafög und 600 Euro Erstausstattung für Möbel und Klamotten zur Verfügung. Das war’s. Als ich beim Jugendamt saß und sagte, dass dies nicht reiche, sagte der Mitarbeiter: „Wenn Sie sich das Abitur nicht leisten können, dann müssen Sie es auch nicht machen.“ Alle behaupten, unser Bildungssystem wäre kostenlos. Aber man stellt immer wieder fest: Wenn du das nötige Kleingeld nicht hast, kommst du in unserem Bildungssystem nicht weit.

Wie haben Sie den Weg aus der Armut gefunden?

Ich hab reich geheiratet (lacht). Ich habe jemanden geheiratet, der einfach aus einer finanziell stabilen Mittelschichtsfamilie kommt. Es macht einen eklatanten Unterschied, ob du jemanden hast, der dir zweimal im Monat 50 Euro zustecken kann, oder eben nicht.

Ich habe also zum richtigen Zeitpunkt in meinem Leben Menschen gefunden, die solidarisch waren. Mit deren Hilfe konnte ich Wege gehen, die mich dahin geführt haben, von meiner Selbstständigkeit leben zu können.

Wie ist heute Ihr Verhältnis zum Thema Geld?

Mein Geld und ich haben eine sehr angespannte Beziehung zueinander. Selbst wenn ich längst im Supermarkt einkaufen kann, ohne dass am Ende des Monats das Konto überzogen ist, fange ich bei 50 Euro Ausgaben außer der Reihe an zu hyperventilieren. Dann ist sie wieder da, die Angst, dass diese 50 Euro dazu führen werden, am Ende des Monats nicht mehr den Wocheneinkauf bezahlen zu können. Diese Armutserfahrungen werde ich nicht mehr los.

Was hätte Ihnen als Kind geholfen und was würde armutsbetroffenen Familien heute helfen?

Gegen Armut hilft Geld. Wir brauchen eine Grundsicherung, die den Namen auch verdient. Die nicht nur ein tatsächliches Überleben an einem absurd definierten Existenzminimum ist. Die Grundsicherung muss sicherstellen, dass Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Dass das Kind in den Fußballverein gehen kann, dass die junge Erwachsene zum Mittagessen gehen kann, dass die junge Mutter an dem Babyschwimmkurs teilnehmen kann. Wir brauchen eine Grundsicherung, die den Menschen ein würdevolles Leben garantiert.

Celsy Dehnert: „Das Gefühl von Armut: Über knappe Kohle, geringen Selbstwert und einen Sozialstaat, der uns im Stich lässt“, EMF Verlag, 240 Seiten, 16 Euro

Armut unter Kindern ist in Halle am größten

In Sachsen-Anhalt ist jedes vierte Kind als armutsgefährdet eingestuft. Laut Statistischem Landesamt lag die Armutsgefährdungsquote bei Minderjährigen im vergangenen Jahr bei 24,8 Prozent. Im gesamten Bundesgebiet waren es lediglich 14 Prozent. Wobei das Saarland mit 28,3 Prozent und Nordrhein-Westfalen mit 25,2 Prozent die Statistik anführen.

In Halle leben mit 26 Prozent die meisten armutsgefährdeten Kinder, in der Börde mit 8,9 Prozent die wenigsten. Noch größer als bei Minderjährigen ist der Anteil der Armutsgefährdeten in der Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren: Dort sind es in Sachsen-Anhalt sogar 32 Prozent.

Als armutsgefährdet gelten Kinder und Jugendliche in Familien mit einem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren deutschen Haushaltseinkommens. Es handelt sich also um einen relativen Wert.