Entwicklung Kleine Kinder verstehen schon mehr, als Eltern denken
Mit ein bis zwei Jahren fangen Kinder an zu reden – manche früher, andere später. Dass Eltern dabei eine entscheidende Rolle spielen, zeigt nun eine neue Studie.
Mama, Papa, Ball, Auto: Kinder sagen ihre ersten Wörter, wenn sie im Schnitt ein- bis anderthalb Jahre alt sind. Schon im Mutterleib können sie Stimmen wahrnehmen. Manche Kinder sprechen erstmals mit neun Monaten, andere erst mit zweieinhalb Jahren. Zwischen fünfzig und 200 Wörter: Diese Spanne gilt als normal, wenn ein gesundes Kind rund 20 Monate alt ist.
So hält es auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) auf ihrer Website fest. Woran aber liegt es, dass es zum Teil große Unterschiede bei der Sprachentwicklung gibt? Das hat sich auch die Entwicklungspsychologin Elika Bergelson von der Harvard-Universität gefragt – und ein außergewöhnliches Experiment gestartet.
Familie sollte gesprächig sein
Rund 40.000 Stunden Sprachaufnahmen analysierte die Wissenschaftlerin mit einem internationalen Forschungsteam. Die Aufnahmen stammten von 1.001 Kleinkindern im Alter von zwei Monaten bis vier Jahren aus zwölf Ländern. Gespeichert wurde das Material auf kleinen Audiorekordern. Diese hatten die Babys und Kleinkinder tagelang im Alltag dabei. Die Studienergebnisse wurden Mitte Dezember 2023 in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) veröffentlicht.
Bei der Analyse des großen Datensatzes fiel Bergelson und ihrem Team auf: Weltweit sprechen Kinder mehr, wenn die Erwachsenen – Eltern, Geschwister, andere Verwandte oder auch Freunde – in ihrer Umgebung besonders gesprächig sind. Im Schnitt sprachen die Kinder 27-mal mehr, wenn sie pro Stunde 100 Laute von Erwachsenen hörten. Den Forschenden zufolge korreliert die Anzahl der Laute mit der Größe des aktiv nutzbaren Wortschatzes.
Was die Forschenden selbst überraschte: Die Ergebnisse widersprachen in einem Aspekt vielen anderen Studien, die davon ausgegangen waren, dass der sozioökonomische Status der Eltern die sprachlichen Fähigkeiten beeinflusst. Bergelsons Team hingegen fand keine Hinweise darauf, dass ärmere Eltern weniger mit ihren Kindern sprechen – oder dass das Bildungsniveau ausschlaggebend für die Sprachentwicklung ist. Dennoch wäre es voreilig, zu dem Schluss zu kommen, dass die soziale Klasse überhaupt keinen Unterschied mache, wird Bergelson in einem zur Studie veröffentlichten Artikel in der Fachzeitschrift „Science“ zitiert.
Kinder lernen das Sprechen nach eigenen Regeln, der Prozess ist aber bei allen gleich. Sie hören der Sprache in ihrer Umgebung zu. Erst lauschen sie der Sprach- und Satzmelodie, der Betonung. Sie erproben dann ihre Stimme, geben erste Laute von sich, benennen irgendwann das, was sie sehen. Und erschließen sich grammatikalische Regeln und Konstruktionen. Fachleute sprechen von „ungesteuertem Spracherwerb“, oder „natürlichen Bedingungen“, wie sie vermutlich nur in den ersten Lebensjahren gegeben sind, hält die BZgA fest.
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Helfen kann dabei, wenn Bezugspersonen langsam, vereinfacht und wiederholend sprechen. Das Kind sollte auf seine Weise sprechen oder plappern dürfen, ohne ständig korrigiert zu werden.Eltern sollten nicht das Gefühl haben, sie müssten einen permanenten Redeschwall auf ihre Kinder richten, betont Bergelsen. „Es ist eine großartige Idee, mit Kindern zu interagieren und sie wie Gesprächspartner zu behandeln“, sagt die Sprachwissenschaftlerin. Dabei sollten sie nicht dazu gedrängt werden, mehr Sprache zu produzieren.
Bildschirmzeit ist verloren
Sitzen Kleinkinder lange vor dem Bildschirm, fehlen wichtige Gesprächsmomente, warnt ein australisches Forschungsteam. Sie hören weniger Wörter von ihren Eltern oder anderen Erwachsenen, interagieren weniger mit ihnen und nehmen weniger Gesprächsabläufe wahr. Bildschirmzeit kostet also wertvolle Momente für die Sprachentwicklung.
Die Gruppe um Mary Brushe von der Schule für öffentliche Gesundheit der University of Adelaide in Australien hatte von Januar 2018 bis Dezember 2021 alle sechs Monate mittels Spracherkennungstechnologie gewonnene Daten von 220 Familien einbezogen. Es wurde jeweils die Bildschirmzeit und die häusliche Sprachumgebung der zwölf bis 36 Monate alten Kinder erfasst. Die Auswertung ergab, dass jedes Plus an Bildschirmzeit mit einem Rückgang der Eltern-Kind-Gespräche verbunden war. Die teilnehmenden Kinder haben selbst weniger gesprochen und interagierten seltener in Gesprächen.