Architektur in Neuseeland Neustart in Beton: Napier ist die Hauptstadt des Art déco
Die neuseeländische Stadt am Pazifik wurde einst durch ein Erdbeben zerstört. Das Ergebnis des Wiederaufbaus ist ein architektonisches Erbe, das seinesgleichen sucht.
Napier - Matthew, der Mittsiebziger aus dem neuseeländischen Küstenstädtchen Napier, erinnert sich gut an die Erzählungen seines Vaters, der Augenzeugen der dunkelsten Stunde seines Heimatortes wurde.
Es war ein warmer Februartag im Jahr 1931, als die Wände des Schulhauses plötzlich wankten, Mobiliar wie Spielzeug zur Seite geschoben wurde und sich die Bücher in den Regalen selbstständig machten. Matthews Vater, damals ein Schulkind, rannte um sein Leben.
Keine drei Minuten dauerte das Erdbeben der Stärke 7,8 in der Hawke’s Bay-Region, den Rest erledigte ein verheerender Großbrand. Napier, 1855 gegründet und nach einem britischen General benannt, hatte aufgehört zu existieren. Ausgelöscht durch Naturgewalten.
Das Krankenhaus, die Bibliothek, die St. Paul’s Kirche - alles war wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Mehr als 250 Tote waren bei dem Erdbeben zu beklagen. Selbst jene, die noch ein Dach über dem Kopf hatten, campierten aus Furcht vor Nachbeben im Garten oder am Strand.
Neuland für den Neubeginn
Aber Napier, das die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte Neuseelands heimgesucht hatte, war wie ein Phoenix aus der Asche: Weil sich das Land unglaubliche 2,70 Meter hob, wurde ein Großteil der Ahuriri-Lagune trockengelegt. So entstand Land für Landwirtschaft, einen kleinen Flughafen und die Auferstehung des Küstenstädtchens.
Wer heute die Marine Parade, kilometerlange Flaniermeile am azurblauen Südpazifik, erkundet und dem Rauschen der Brandung verfällt, kann sich kaum vorstellen, wie die Stunde Null von Napier ausgesehen hat. Vorherrschend ist eine Kulisse, die dem Film „Der große Gatsby“ entstammen könnte, ein Werk, das die Ästhetik des Art déco allenthalben aufgreift. Wohin man in Napiers Zentrum auch blickt, fällt bald ein Gebäude dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts populär gewordenen Stilrichtung ins Auge.
Das Leitmotiv von Napiers Neubeginns, „Faith and Courage“, wurde in die eisernen Bögen an der Meerespromenade eingemeißelt. Was die Stadt heute vor sich herträgt, war das Ergebnis eines dramatischen Sparzwanges. „Die meisten Betroffenen hatten keine Versicherung, deshalb musste der Wiederaufbau möglichst preisgünstig erfolgen“, sagt Matthew, der als Guide Besuchern das reiche Architekturerbe seiner Heimatstadt zeigt.
Napiers neues Gesicht wurde nach einem Baukastensystem mit vorgefertigten Betonteilen geschaffen. Unter den beauftragten Architekten waren Louis Hay oder die des Büros Natusch & Sons. Hay begeisterte sich für das Werk des Amerikaners Frank Lloyd Wright; Stanley Natusch war bei einem Aufenthalt in London der Stilrichtung des Art déco begegnet. So entstand die „Art Deco Capital“ Napier.
Die ultimative Art déco-Dichte
Paris oder New York gelten gemeinhin als Hochburgen der Stilrichtung, „doch in keiner Stadt der Welt finden sich so viele Art déco-Gebäude auf engstem Raum wie in Napier“, betont Matthew, „nicht einmal in Miami“. In der Stadt in Florida wurde ein ganzes Viertel größtenteils in dem Stil errichtet. Es gilt als US-weit höchste Konzentration an Art déco-Gebäuden.
Das Faible für die Kulturepoche, die zwischen den beiden Weltkriegen ihren Höhepunkt hatte, war weltumspannend. Auch in Napier zeigt es sich in markanten Zickzackmustern. Und den in Pastelltönen gehaltenen Fassaden - auch die sind Ergebnis des roten Stifts, da man die Farben mit Wasser verdünnte.
In kräftigeren Farben zieren geografische Muster kantige Vorsprünge, rahmen bleiverglaste Fenster ein und finden sich in schmiedeeisernen Balkonen wieder. Straßenlaternen, filigran wie Kerzenhalter, flankieren die Straßen zwischen Tennyson Street und Dickens Street. Selbst McDonald’s residiert im Vorort Taradale in einem kunstvoll restaurierten Art déco-Gebäude.
Lokalkolorit mischt sich etwa bei der ASB-Bank an der Ecke von Hastings Street und Emerson Street dazu. Wie andere Gebäude auch wurde der Art déco-Bau mit typischen Maori-Mustern verziert. Weitere Perlen sind das Hostel „Criterion“ oder das National Tobacco Company Building.
Bewahrung des architektonischen Schatzes
Es brauchte Zeit, bis sich bei den Einheimischen Stolz über die dekorativen Häuserzeilen einstellte, die Erinnerungen an die wilden 1920er-Jahre wecken, an Bubikopf, Charleston, Jazz und Dekadenz. Seit über 30 Jahren widmet sich der „Art Deco Trust“ der Bewahrung des architektonischen Schatzes. Er unterstützt Hausbesitzer bei der fachgerechten Sanierung ihrer Kleinode und organisiert touristische Touren wie die mit Matthew.
Etwa eine Stunde dauern diese Rundgänge. Es sind kleine Zeitreisen in die Vergangenheit - siehe Matthews persönliche Geschichte. Er stoppt an vielen „Juwelen“ des Städtchens, etwa dem Sitz des „Daily Telegraph“, einer nicht mehr existenten Lokalzeitung, oder dem Vier-Sterne-Hotel „Masonic“, dessen Bar ein beliebter Treffpunkt für Einheimische und Touristen ist.
Regelmäßig im Frühjahr feiert die Stadt ihr architektonisches Erbe im Rahmen des „Art Deco Festival Napier“. Weitere Führungen, Jazz-Konzerte und Tanzshows stehen auf dem Programm. Im General Store ist zu gegebener Zeit wie in Deutschland vor dem Karneval alles zu finden, was für stilechte Partys wichtig ist: mit Pailetten bestickte Charleston-Kleider, Glacé-Handschuhe, gehäkelte Sonnenschirme, der Nadelstreifen-Dreireiher für den Gentleman. Höhepunkt des Fests, das Abertausende anlockt, ist die Oldtimerparade.
Matthew und seine Frau Marjorie sind auch dabei - mit ihrem Buick von 1938. Den schwarz lackierten Achtzylinder mit den Chromelementen hat der stolze Besitzer vor Jahren in den USA gekauft - dort, von wo auch das ursprünglich in Frankreich entstandene Art déco sich weltweit verbreitete.
Matthew und Marjorie nehmen auf den bequemen Sitzen Platz und tuckern Richtung Sonnenuntergang - wie einst Jay und Daisy in „Der große Gatsby“.
Links, Tipps, Praktisches:
Reiseziel: Die Küstenstadt Napier liegt rund 400 Kilometer südlich der neuseeländischen Millionenmetropole Auckland auf Neuseelands Nordinsel.
Reisezeit: Während des europäischen Winters ist in Neuseeland Sommer. In Dezember und Januar können die Temperaturen auf hochsommerliche Werte steigen. Der eher kühle Pazifik sorgt für Abkühlung.
Anreise: Mindestens 24 Stunden dauert der Flug nach Auckland von Deutschland aus. Zwischenlandungen erfolgen an der Westküste der USA oder in Südostasien. Weiter nach Napier kommt man in rund sieben Stunden mit der nationalen Busgesellschaft InterCity oder etwas schneller einem Mietwagen.
Einreise: Ein Visum brauchen deutsche Touristen nicht, allerdings muss man rechtzeitig die New Zealand Electronic Travel Authority (NZeTA) beantragen (ab 17 Dollar).
Währung: Ein Neuseeland-Dollar entspricht 0,55 Euro (Stand: 17.12.2024) Kreditkarten sind gängiges Zahlungsmittel.
Festival: Das nächste „Art Deco Festival Napier“ findet vom 13. bis 16. Februar 2025 statt. Das Programm ist auf der Website veröffentlicht.
Gesundheitshinweise: Es sind keine Impfungen vorgeschrieben
Zeitverschiebung: Napier ist Deutschland aktuell um zwölf Stunden voraus.
Weitere Auskünfte: newzealand.com
Social Media: instagram.com/napiercity; youtube.com/purenewzealand