Reizüberflutung "Retro"-Reiz in der Gegenwartsblase
Simpel ist schön. Der Trend zum "Retro" in Design und Funktion ist ausgeprägt wie selten zuvor. Was steckt dahinter, wenn sich Menschen wieder einen Filterkaffee brühen und zur Polaroid-Kamera greifen?
Wien (dpa) - "Zitate aus einer besseren Zeit" und eine Rückbesinnung auf die Vergangenheit: Der Trend zum "Retro" sei angesichts der Reizüberflutung nun besonders ausgeprägt, sagen Zukunftsforscher.
Dazu gehört das Comeback der Langspielplatte wie des Filterkaffees. Das ist harmlos. Aber es gibt ein grundsätzlicheres Problem: Der Strom an Informationen und Emotionen halte die Menschen in einer Gegenwartsschleife gefangen, "die uns die Vergangenheit vergessen lässt und uns an der soliden Beschäftigung mit der Zukunft hindert", sagt der Trendforscher Harry Gatterer vom Deutschen Zukunftsinstitut.
FRAGE: Wir sehr ist aktuell "Retro" ein Trend?
ANTWORT: Im Prinzip ist "Retro" immer ein Trend. Die Rückbesinnung auf die Vergangenheit ist Teil einer Gesellschaft. Aktuell ist er aber besonders ausgeprägt.
FRAGE: Was ist Voraussetzung dafür, dass "Retro" funktioniert?
ANTWORT: Die Dinge müssen wirklich vom Markt verschwunden sein und dürfen kein Nischen-Dasein fristen. Erst das garantiert, dass man sich nicht mehr an ihre Macken und Mängel erinnert. Dann hat man vergessen, dass das Alte mit dem Neuen eigentlich nicht mithalten kann.
FRAGE: Welche Beispiele gibt es?
ANTWORT: Der Boom bei den Schallplatten ist das auffallendste Beispiel. Aber auch beim Design und den Möbeln spielt die Rückbesinnung auf die 1960er Jahre eine Rolle. Es gibt wieder Polaroid-Kameras als Kontrast zur Flüchtigkeit des Digitalen. Die Zubereitung des Filterkaffees wird wieder zelebriert.
FRAGE: "Retro" ist die Reaktion auf die Komplexität der Welt?
ANTWORT: Ja, sicher. Je stärker die gefühlte Unsicherheit desto ausgeprägter die Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Aber das bezieht sich natürlich nicht auf den gesamten Lebensstil oder die gesamte Einrichtung. Es sind immer nur Zitate aus dieser Zeit. Die Maschine für den Filterkaffee steht in einer High-End-Küche.
FRAGE: Gibt es auch regionale Ausprägungen von "Retro"?
ANTWORT: In Bayern ist die Lederhose wieder ein Pflicht-Kleidungsstück, in Wien gibt es einen Trend, die "Salons" wiederzubeleben, wo man sich gepflegter Konversationen widmen will.
FRAGE: Bei dem Thema lässt sich leicht die Brücke zur Politik schlagen, wo einfache Antworten äußerst beliebt sind.
ANTWORT: Angesichts der Sehnsucht nach der Einfachheit ist schon das Versprechen allein ein Hoffnungsschimmer.
FRAGE: Welche Rolle spielt die digitale Welt bei der Entwicklung?
ANTWORT: Das Internet, die sozialen Medien, die Datenflut - alles beansprucht unsere Aufmerksamkeit in einem extrem hohen und anstrengenden Maße. Das führt dazu, dass wir in einer Gegenwartschleife, in einer Gegenwartsblase leben. Das lässt uns die Vergangenheit vergessen und hindert uns an der soliden Beschäftigung mit der Zukunft. Daraus entsteht leicht eine diffuse Angst vor dem, was kommen könnte. Die Zukunft wird zum Problem.
ZUR PERSON: Harry Gatterer (42) ist Geschäftsführer des Deutschen Zukunftsinstituts, das 1998 von Matthias Horx gegründet wurde. Gatterer beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Trendforschung.