Soziale Netzwerke und klare Tagesstruktur sind wichtig Risiko Ruhestand: Untätigkeit im Alter kann krank machen
Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und wissen nicht, was Sie mit dem Tag anfangen sollen. Wenn das aktive Berufsleben beendet ist und die Kinder erwachsen sind, erleben viele Senioren eine Sinnkrise. Der wohlverdiente Ruhestand wird für sie damit zum Gesundheitsrisiko, warnen Psychologen, Ärzte und Alterswissenschaftler.
Tübingen ( ddp ). " Wenn der Beruf allein als sinnstiftendes Element im Leben gesehen und keine Vorbereitung auf den Ruhestand getroffen wurde, dann steigt das Risiko, vor allem psychische und psychosomatische Krankheitsbilder wie Depressionen oder chronische Schmerzkrankheiten zu entwickeln ", sagt Professor Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsklinik Tübingen. Gefährdet sind vor allem Männer, die sich vorher oft fast ausschließlich über den Beruf definiert haben. Frauen hingegen betreffe dies nicht so stark, weil sie oft verschiedene Lebensphasen wie Beruf und Elternzeit erlebt haben und deshalb flexibler reagieren, erklärt Zipfel.
Ein Testszenario für den Ruhestand kann für Berufstätige der Urlaub sein. " In diesen Auszeiten kann sich jeder schon einmal die Frage stellen : Was mache ich eigentlich, wenn ich nicht mehr durch den Beruf gesteuert werde ?", sagt Zipfel. Wer sein ganzes Leben lang keine Hobbys oder Interessen gepflegt habe, der falle schneller in ein Loch.
Hauptrisikofaktor für Gemütserkrankungen im Alter seien Depressionen in der Vorgeschichte des Patienten und die soziale Isolation, erklärt Professor Gerhard Eschweiler, Leiter des Geriatrischen Zentrums an der Universitätsklinik Tübingen. " Entscheidend für psychisches Wohlbefinden ist, dass man mit seiner Biografie im Reinen ist, Beziehungen pflegen kann, aber auch einen Sinn in seinem Tun oder in seiner Existenz sieht ", betont der Alterspsychiater. Fehle das Gefühl, gebraucht zu werden, steige nicht nur das Depressions-Risiko – sondern auch die Gefahr, sich mit Alkohol oder Beruhigungstabletten über die Einsamkeit hinweg zu trösten, so Eschweiler. " Soziale Teilhabe ist ein ganz wichtiger Faktor für psychische Gesundheit. Sie umfasst nicht nur familiäre Bindungen, sondern auch lockere Beziehungen wie beispielsweise beim Engagement im Ehrenamt, in der Kirche oder im Verein. "
Wenn jemand kurz nach dem Ruhestand an gedrückter Stimmung, Antriebslosigkeit und Freudlosigkeit leide, wenn selbst die Enkel oder ein gutes Essen keine Freude mehr machten, dann seien das alarmierende Signale. Menschen mit Depressionen litten auch an Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Grübelei und vermindertem Selbstwertgefühl bis hin zu lebensverneinenden Gedanken. Wer länger als zwei Wochen an diesen Symptomen leide, solle einen Hausarzt konsultieren, rät Eschweiler. In schwereren Fällen helfe depressiven Menschen ein Antidepressivum. Auch Psychotherapien können Betroffenen helfen. Senioren mit über 80 Jahren kann eine Psychotherapie allerdings auch überfordern. Außerdem gebe es leider nicht genügend auf das Alter spezialisierte Psychotherapeuten in Deutschland.
Bei leichteren depressiven Verstimmungen helfe es häufig, wenn sich Menschen aus dem engeren Umfeld den Betroffenen zuwenden und sie motivieren, an die frische Luft und ans Licht zu gehen. Dies könne die Stimmung aufheitern. " Schlecht ist es, im Winter im Dunkeln zu sitzen und zu grübeln ", warnt der Mediziner. Untersuchungen zeigten zudem, dass diejenigen, die einen Hund besitzen, sich mehr bewegen und mehr soziale Kontakte besitzen als andere.
Körper und Geist gehören zusammen – wer seelische Probleme hat, entwickelt häufig auch körperliche Symptome : Experten sprechen dann von Psychosomatischen Erkrankungen. Rückenschmerzen, Bluthochdruck oder bestimmte Hauterkrankungen können beispielsweise psychosomatische Ursachen haben. " Oft werden die Beschwerden im Alter aber nicht richtig gedeutet, weil Betroffene beim Arzt vorrangig über körperliche Symptome klagen ", erklärt Elisabeth Rauh, Chefärztin der Psychosomatischen Klinik im bayerischen Bad Staffelstein. So bleiben die eigentlich psychischen Ursachen von Beschwerden oft im Verborgenen.
" Menschen verbringen heutzutage im Schnitt 20 Jahre im Ruhestand. Die längste Phase davon kann man in guter Verfassung verbringen und mit hoher Lebensqualität ", betont Professor Ansgar Thiel, Altersund Sportwissenschaftler und Leiter des Instituts für Sportwissenschaft an der Universität Tübingen. Er ist einer der Autoren des Ratgeber-Buchs " Projekt Ruhestand ", für das er über 100 Interviews mit Ruheständlern geführt hat.
Thiel sieht den Schlüssel für ein zufriedenes Rentenalter ebenfalls in Zielen, in der Frage : Was will ich noch erreichen ? Für jeden sei die Antwort unterschiedlich. Manche Senioren wollten ein Instrument oder eine Fremdsprache erlernen, andere wünschten sich, zu reisen. Auch sollte man sich überlegen, wie lange solche Ziele tragen. " Oft wird das Reisen nach einer bestimmten Zeit langweilig. " Was könnte also nachhaltiger sein ? Wer etwa ein Ehrenamt im Ruhestand bekleiden wolle, müsse sich schon vorher um Kontakte bemühen – der Tag nach dem Eintritt in den Ruhestand sei oft zu spät.
• Fortsetzer : Sie tun so, als hätte sich in ihrem Leben nichts geändert. Sie beschäftigen sich weiterhin mit jenen Themen und Anliegen, die bereits ihre Berufslaufbahn ausgefüllt haben. Der emeritierte Professor übernimmt einen Lehrauftrag, der pensionierte Lehrer unterrichtet Englisch an der Volkshochschule.
• Abenteurer : Sie wagen sich auf neues Terrain, krempeln ihr Leben um, fangen ein Studium an. Die zentrale Motivation ist oft, etwas Versäumtes nachzuholen und die Neugierde zu stillen. Sie wissen, was sie wollen, und gehen ihre Unternehmungen systematisch an.
• Sucher : Sie hangeln sich von einer neuen Perspektive zur nächsten, ohne wirklich zu finden, was sie suchen. Mal züchten sie Rosen, mal spielen sie Golf, und später versuchen sie sich im Zen-Bogenschießen. Sie machen nichts wirklich lange und leben in der Hoffnung, endlich das Richtige zu finden.
• Genießer : Sie nehmen sich Zeit für die Dinge, die im beruflichen Alltag zu kurz gekommen sind. Sie lesen, reisen, musizieren und tun, was auch immer ihnen Spaß macht. Sie freuen sich, dass sie nun ohne Termin- und Zeitdruck jenen Dingen mit Muße nachgehen können, die ihnen Spaß machen.
• Unbeteiligte Zuschauer :
Sie beobachten im Ruhestand die Entwicklungen in der Gesellschaft oder ihren früheren Unternehmen mit Distanz. Sie mischen sich nicht mehr ein und freuen sich, dass sie keine Verantwortung mehr für Entscheidungen tragen müssen.
• Rückzieher : Sie ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück und hadern mit ihrem Schicksal, fühlen sich nicht mehr gebraucht, trauern früheren Zeiten nach und fallen dabei nicht selten in eine depressive Verstimmung. ( ddp )