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Beteiligung für zweite Urnengänge oft enttäuschend Wichtig für Demokratie oder überflüssig: Sind Stichwahlen noch zeitgemäß?

Von Falk Heidel 09.08.2011, 19:05

Lothar Finzelberg aus Hüttermühle bei Genthin schaffte vor zehn Jahren über eine gewonnene Stichwahl gegen Stephan Karnop (CDU) den Sprung ins Landratsamt. Jüngster Stichwahl-Profiteur ist Burgs Bürgermeister Jörg Rehbaum (SPD). Aber ist eine "Zweitwahl" 14 Tage nach dem eigentlichen Wahltag noch zeitgemäß?

Burg/Genthin/Biederitz. CDU-Innenminister Holger Stahlknecht denkt laut über die Abschaffung von Stichwahlen nach (Volksstimme berichtete gestern). Hintergrund ist die miserable Wahlbeteiligung bei der Landratswahl im Bördekreis.

Landräte, Oberbürgermeister und Bürgermeister sollen demnach nur noch in einem Wahlgang gewählt werden. Dafür soll künftig die einfache Mehrheit eines Wahlsiegers genügen. Derzeit ist eine Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten notwendig, wenn im ersten Wahlgang kein Bewerber eine Mehrheit von mindestens 50 Prozent erzielt.

Bei der Stichwahl am Sonntag war der neue Bördekreis-Landrat Hans Walker (CDU) mit dem Negativrekord von nur 13,3 Prozent Wahlbeteiligung zum Nachfolger von Verkehrsminister Thomas Webel (CDU) gewählt worden. Eine entsprechende Änderung des Wahlrechts müsste der Magdeburger Landtag beschließen.

"Ich unterstütze den Stahlknecht-Vorschlag, würde also für die Abschaffung der Stichwahlen stimmen", sagte der Burger Abgeordnete Markus Kurze gestern auf Volksstimme-Nachfrage. Sein Argument: "Es ist verdammt schwierig, die Leute nach dem eigentlichen Wahltag ein zweites Mal zu motivieren. Es gibt nicht wenige Menschen, die glauben, mit ihrem Kreuz auf der Wahlliste sei alles erlegigt." Außer der "pragmatischeren Einfachheit" spricht Kurze von der Einsparung von Kosten durch das wegfallende Wahlprozedere, zumal es keine weitere Wahlbenachrichtigung für die Bürger gibt.

Würden die Stichwahlen tatsächlich abgeschafft werden, würde Burgs SPD-Bürgermeister Jörg Rehbaum als letzter Stichwahl-Sieger in die Geschichtsbücher des Jerichower Landes eingehen. Er sieht verschiedene Gründe, die sowohl für als auch gegen Stichwahlen sprechen: "Schaut man sich die Ergebnisse in der Börde an, dann entspricht eine Stichwahl tatsächlich nicht den demokratischen Grundsätzen, macht diese Zweitauflage tatsächlich keinen Sinn. Anders ist es aber bei Fällen, wo mehrere Kandidaten im ersten Wahlgang dicht beeinander liegen. Hier dürfen 0,2 Prozent der Stimmen nicht den Ausschlag geben, sondern Stichwahlen."

Rehbaum setzte sich im Januar 2010 mit 54,7 Prozent in der Stichwahl gegen Herausforderer Reinbern Erben (45,3) durch. Im ersten Wahlgang lag er bereits mit 34,4 Prozent schon mit mehr als zehn Prozent vor seinem stärksten Herausforderer. Drei weitere Kandidaten (Berkling, Ritz, Endert) mussten die Hoffnungen schon nach der ersten Wahl-Runde begraben.

Wie fühlt sich ein Kandidat in den zwei Wochen zwischen den beiden Wahlgängen? "Ich habe relativ ruhig geschlafen", erzählt Rehbaum. "Im Gegensatz zu den Nächten vor dem ersten Wahltag."

Die Frage der Stichwahl-Abschaffung beantwortet der Genthiner Landtagsabgeordnete Harry Czeke (Die Linke) mit nein. Er sagt: "Natürlich ist die Beteiligung im Bördekreis desaströs. Und wir wissen auch, dass Sachsen-Anhalt ein Bundesland mit traditionell niedriger Wahlbeteiligung ist. Warum auch immer." Aber auf Stichwahlen zu verzichten, ist aus seiner Sicht der falsche Weg: "Vielmehr sollten wir uns Gedanken machen, wie wir die Menschen motivieren können, zu solchen Wahlen zu gehen." Beobachtet hat Czeke eine gewisse "Politikverdrossenheit. Da sind in der Vergangenheit im Bezug auf Wahlversprechen viele Fehler gemacht worden, die nur schwer reperabel sind."

Die Wahlbeteiligung lag am vergangenen Wochenende in den einzelnen Bördekreis-Stimmbezirken zwischen mageren 3,5 Prozent in Cröchern und 31,9 Prozent in Eschenrode.

"Ein plötzliches Emporschnellen der Wahlbeteiligung wird man allerdings auch mit einer Änderung des Wahlgesetzes kaum erwarten können, denn die Ursachen liegen wohl tiefer", meint der SPD-Landtagsabgeordnete Matthias Graner. Und: "Immerhin haben die Bürger Sachsen-Anhalts bei der Landtagswahl gezeigt, dass sich der Trend zu immer niedrigerer Wahlbeteiligung auch umkehren lässt." Im März war die Wahlbeteiligung um rund sieben Prozentpunkte gegenüber 2006 gestiegen. Graner: "Dessen ungeachtet war ich natürlich über die Beteiligung bei der Stichwahl im Bördekreis auch erschrocken. Was man dagegen tun kann? Als Politiker immer wieder das Gespräch mit den Menschen suchen."

Einziger Profiteur von Stichwahlen im Jerichower Land ist Biederitz‘ Bürgermeister Kay Gericke. Er lag nach dem ersten Wahlgang im August 2009 noch deutlich hinter dem damaligen Amtsinhaber Siegfried Jahnke. Beide waren gestern allerdings für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

"Kapitulation vor vermeintlicher Demokratiemüdigkeit"

Der bündnisgrüne Landesvorsitzende Sebastian Lüdecke erklärte gestern auf dem so genannten Europaticker seiner Partei: "Die Abschaffung von Stichwahlen wäre die Kapitulation vor einer vermeintlichen Demokratiemüdigkeit. Doch nicht erst seit Stuttgart 21 wissen wir, dass wir mehr Bürgerbeteiligung und Angebote zur Mitbestimmung brauchen. Bei einer Abschaffung von Stichwahlen besteht die Gefahr, die bröckelnden Mehrheiten der großen Volksparteien zu konservieren und Kandidaten ohne breite Legitimation durchzuwinken."

• Wie gehen andere Bundesländer mit dieser Thematik um? Brandenburg wiederholt Wahlen mit einer Beteiligung von weniger als 15 Prozent. Die CDU/FDP-Regierung hatte in Nordrhein-Westfalen die Stichwahl 2007 abgeschafft, jedoch ist sie in diesem Jahr mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP wieder eingeführt worden. Niedersachsen prüft gerade die Abschaffung der Stichwahl.

• Was ist eine Integrierte Stichwahl?
Diskutiert wird deutschlandweit schon seit einigen Jahren eine sogenannte integrierte Stichwahl. Dabei wird die Stichwahl zeitgleich mit dem ersten Wahlgang durchgeführt. Die Wähler können auf ihrem Stimmzettel sowohl ihre Entscheidung für den ersten Wahlgang als auch ihre Wahlentscheidung für den eventuellen Fall einer Stichwahl erklären. Die integrierte Stichwahl wird dann wirksam, wenn im ersten Wahlgang keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit der Stimmen errungen hat. Auch bei dieser virtuellen Form der Stichwahl stehen nur noch die beiden erstplazierten Kandidaten des ersten Wahlgangs zur Wahl.

• Wenn es Wahlen gibt, warum gibt es noch keine Abwahlen?
Im Düsseldorfer Landtag wollten SPD und Grüne Anfang dieses Jahres die Hürden für ein Volksbegehren senken, um so mehr direkte Demokratie in Nordrhein-Westfalen zu ermöglichen. Auch über die direkte Abwahl von Bürgermeistern und Landräten wurde verhandelt – bisher ohne Ergebnis.