Erinnerungen 9. November 1989: „Das war der Hammer“
30 Jahre Mauerfall - am 9. November 1989 öffneten sich die innerdeutschen Grenzen. Welche Erinnerungen haben die Menschen in der Region Gardelegen?
Gardelegen l Der 9. November 1989 – Millionen von Menschen sitzen abends vor dem Fernseher, um die Aktuelle Kamera zu sehen. Und dann kommt kurz vor 19 Uhr die berühmte Pressekonferenz mit Günter Schabowski zum neuen Reisegesetz. Jeder DDR-Bürger könne über die Grenzübergänge ausreisen. Und auf Nachfrage, ab wann, der berühmte Satz: „Das trifft nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“ Millionen Menschen hören das, wollen kaum glauben, was sie hören. Und dann geht es los. Menschenmassen sind unterwegs. Um 21.15 Uhr passieren die ersten Ostdeutschen den Grenzübergang Helmstedt-Marienborn ....
An diesem Tag sitzt auch Jürgen Bajerski aus Laatzke vor dem Fernseher. Auch er ist sprachlos. An diesem Abend hat er noch eine Versammlung vom Kultur- und Denkmalpflegeverein, der damals anders hieß. „Wir waren alle total baff. Die Grenze war auf. Ich habe die ganze Nacht vor dem Fernseher verbracht“, erinnert sich Bajerski. Er war zu jener Zeit in einer Förderwerkstatt am Holzmarkt beschäftigt, wo sich heute die Kita Arche Noah befindet. Arbeitgeber war die Kirche. Schon früh beschäftigt sich Bajerski mit den politischen Verhältnissen in der DDR. Über die Kirche gibt es schon seit 1987 Informationen über den sich formierenden Widerstand.
In jenem Jahr 1989 verlassen etliche Kollegen ihre Heimat, gehen in den Westen, einige mit Ausreisegenehmigung, andere später über Ungarn. „Die Leute waren über Nacht weg“, erzählt Bajerski. Keine einfache Aufgabe für die Daheimgebliebenen, die Arbeit zu organisieren. „Für mich ging es damals um einen besseren Sozialismus, um mehr Freiheit für die Menschen“, räumt Bajerski ein. Dann jedoch darf er im August 1989 das erste Mal in den Westen fahren – zu einer Familienfeier in Donau-Eschingen –natürlich allein, ohne Frau und Kinder. „Da hat sich meine Einstellung geändert. Denn wer das einmal gesehen hat, möchte nicht wieder zurück“, erinnert sich Bajerski. Er kehrt natürlich zurück, aber hat jetzt ein anderes Ziel. Er geht zu Versammlungen des Neuen Forum, beteiligt sich an Gesprächsrunden, die zumeist im damaligen Friedrich-Wolf-Theater (heute Schützenhaus) oder in der Marienkirche stattfinden. Er demonstriert mit, hat sich ein Plakat gebastelt, das er übrigens heute noch hat.
„Das waren damals Schweigemärsche. Niemand hat sich so recht getraut. Ganz zaghaft kam dann „Wir sind das Volk“, so Bajerski. Er erinnert sich an die Rede von Pfarrer Horst Dietmann am Rathaus. Nach dem Rücktritt Erich Honeckers am 18. Oktober 1989 findet Tage später eine Versammlung in der Marienkirche statt. „Wie nun weiter, DDR?“ ist das Thema. Über 1000 Menschen sind in der Marienkirche. „Da habe ich mich auch mal getraut, was zu sagen“, weiß Bajerski auch 30 Jahre später noch ganz genau. Er hatte sich seinerzeit den Schwarzen Kanal mit Karl Eduard von Schnitzler angetan, so Bajerski. Damals in der Marienkirche empört er sich darüber, kündigt eine Unterschriftenaktion an, dass Schnitzler vom Sender genommen werden muss. „Komisch, eine Woche später war das erledigt. Schnitzler war vom Fernseher verschwunden“, erzählt Bajerski schmunzelnd – allerdings ohne sein Zutun.
Am 9. November und danach überschlagen sich die Ereignisse. Bajerski fährt mit seinen Kindern in seinem Trabi 601 über Bergen-Dumme nach Wolfsburg. Seine Frau bleibt damals zu Hause. Apfelsinen, Bananen, er bekommt von einem Mann zehn Westmark geschenkt, ein anderer fragt, ob er schon Kaffee getrunken hat und lädt ihn ein. „Das waren wildfremde Leute, alle haben gestrahlt, so was kann man gar nicht beschreiben. Ich habe so was nie wieder erlebt. Das war der Hammer“, sagt Bajerski mit leuchtenden Augen.
Später ist er dann dabei, als der Grenzübergang Böckwitz-Zicherie eröffnet wird. Der Asphalt habe noch gedampft. Tausende von Menschen stehen auf beiden Seiten. Und wieder gibt es für die ostdeutschen Nachbarn zahlreiche Geschenke und offene Arme. „Das war eine Euphorie damals, eine tolle Zeit“, denkt Bajerski an die aufregenden Wochen und Monate zurück. Zu DDR-Zeiten habe er zahlreiche Filme gesehen, aus Frankreich mit Louis de Funés oder die Olsenbande aus Dänemark. „Ich habe nie geglaubt, dass ich jemals Frankreich oder Dänemark sehen werde“, sagt Jürgen Bajerski.
Bis zum 9. November 1989, denn mit der Grenzöffnung und dem Zusammenbruch der DDR können die Ostdeutschen nun überall hin auf der Welt – auch nach Frankreich und Dänemark. Welche Erinnerungen haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, an diesen Tag? Schreiben Sie uns Ihre Geschichten, teilen Sie Ihre Erlebnisse mit anderen Volksstimme-Lesern. Gern auch im persönlichen Gespräch mit Volksstimme-Redakteuren, per E-Mail oder per Leserbrief.
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