Chance auf ein fast normales Leben Lebenshilfe beschäftigt und betreut 78 seelisch Behinderte
Die Zahl der psychisch chronisch Erkrankten in Deutschland nimmt zu. Das hat auch die Lebenshilfe Altmark West in den vergangenen Jahren festgestellt. Zurzeit werden 78 seelisch Behinderte in der Werkstatt am Lindenberg betreut. Durch die Arbeit nehmen sie - trotz ihrer Erkrankungen - am Berufs- und Sozialleben teil.
Gardelegen l Es zischt und knackt in der Halle. Andreas Spingies klebt ein Stück Folie auf ein Plastikteil. An einem anderen Arbeitstisch montieren Bernd Jordan und Torsten Wolf Leisten, wie auch Hans-Joachim Wernecke und Dietmar Fröhlke nebenan. Es sieht aus wie in einer gewöhnlichen Halle eines Zulieferbetriebes - doch "D+M Dienstleistung und Montage" ist eine besondere Werkstatt der Lebenshilfe Altmark West GmbH. Dort werden 78 Frauen und Männer betreut, die psychisch chronisch erkrankt sind. Das sind knapp 20 Prozent aller Betreuten in den Werkstätten der Lebenshilfe.
"Es kommen immer mehr junge Menschen zu uns", sagt Sarah Maaß, die Werkstatt-Leiterin. Seit November 2010 haben Maaß, ihre Kollegen und die Betreuten ganz hervorragende Arbeitsbedingungen, denn aus den zwei Standorten an der Bahnhofstraße und am Kiefernweg wurde eine Adresse: die am Lindenberg. Eine große, helle Werkstatt, Aufenthalts- und Therapieräume, ein Ruheraum, Büros und eine Mensa. "Wir haben ideale Bedingungen hier und können endlich allen Betreuten gerecht werden", sagt Maaß zufrieden.
Depressionen, Angstzustände, Borderline-Störungen, Psychosen, Schizophrenie, Suchtkrankheiten - all das können Ursachen sein, warum Frauen und Männer nicht mehr am Sozial- und Berufsleben teilhaben können und seelisch behindert sind. Maaß betont: "Unseren Betreuten sieht man ihre Behinderungen häufig nicht an." Da ist etwa der Diplommathematiker, der an Schizophrenie erkrankte. Oder jemand, der depressiv wurde, weil er vor vielen Jahren seinen Arbeitsplatz verlor. Viele Betreute haben Schulabschlüsse und Berufsausbildungen.
Wie Andreas Spingies, der seit zwei Jahren bei D+M tätig ist. Nach seinem Schulabschluss und einer Ausbildung zum Anlagenfahrer bei einem großen Zulieferbetrieb erkrankte der junge Mann. Im Januar 2010 kam er in den Berufsbildungsbereich in der Werkstatt an der Bahnhofstraße, seit neun Monaten ist er nun bereits in der Montage tätig. Mit flinken Fingern klebt er die rote Folie auf die Plastikleiste. "Die Arbeitsbedingungen hier sind toll. Wir haben vernünftige Pausen und haben nicht so einen großen Druck. Es ist ein geschützter Bereich, in dem wir arbeiten können", sagt der 24-Jährige, der aus Fleetmark stammt.
"In Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt ist häufig jeder sich selbst der Nächste"
Druck am Arbeitsplatz, Mobbing - "in Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt ist häufig jeder sich selbst der Nächste", sagt Lebenshilfe-Geschäftsführer Hans-Peter Haase. Das ist bei D+M anders. "Den geschützten Rahmen für die Betreuten sehe ich als eine unserer wichtigsten Aufgaben an", fügt die Werkstattleiterin hinzu.
Ein Großteil der Betreuten lebt in eigenen Wohnungen. Fast alle bekommen eine Erwerbsminderungsrente, dazu den Grundlohn und einen Leistungslohn von D+M. "Es ist auf jeden Fall besser als Hartz IV, weil unsere Mitarbeiter eine Arbeit und soziale Kontakte haben", erläutert Maaß. Eine Rehabilitationspsychologin und der soziale Dienst helfen außerdem bei Problemen abseits der Arbeit. Die Betreuten haben teils beträchtliche Anfahrtswege, unter anderem aus Salzwedel und Stendal.
Der Weg zu einem Betreuungsplatz für seelisch behinderte Menschen ist lang. Nach dem Antrag auf eine berufliche Rehabilitationsleistung beim Kostenträger, etwa der Agentur für Arbeit oder der Deutschen Rentenversicherung, folgen Gutachten.
"Entscheidend ist, dass eine wesentliche seelische Behinderung festgestellt wird", so Haase. Ist dies der Fall, folgt ein Eingangsverfahren bei der Lebenshilfe und die Überleitung in den Berufsbildungsbereich. "Da schauen wir dann, wer was gut kann und machen möchte", sagt Werkstattleiterin Sarah Maaß. Nach ein bis zwei Jahren Ausbildung - etwa im Bereich Industriemontage, Umweltpflege oder Kantinenbewirtschaftung und Hauswirtschaft - arbeiten die Betreuten in der Werkstatt, im Schnitt sechs Stunden pro Tag. Dazu kommen Angebote wie Ergotherapie, Tanz- und Ausdruckstherapie, Stressbewältigung, Entspannung oder auch die Lichttherapie als passive Depressionsbewältigung. Nicht alle Betreuten nehmen die Therapieangebote wahr: "Mancher ist so verliebt in seinen Arbeitsplatz, dass er gar keine Pause machen will", sagt Haase. Andere wiederum müssen zu Arbeit und Therapie motiviert werden. Eine fordernde Aufgabe für Sarah Maaß und ihre Kollegen: "Bei uns wird ganz viel geredet. Unsere Betreuten können zwar alle lesen und schreiben, aber bei vielen fehlt die Sozialkompetenz. Wir müssen oft einfachen Streit klären." Hans-Peter Haase ergänzt: "Ein geistig behinderter Mensch lässt sich schneller motivieren als ein seelisch behinderter."
Diese Unterschiede in der Betreuung sind es am Ende auch gewesen, die die Entscheidung reifen ließen, eine Werkstatt für psychisch chronisch Erkrankte zu eröffnen. "Die ersten seelisch Behinderten haben wir vor sechs Jahren gemeinsam mit geistig Behinderten betreut", so Haase. Doch das wollten die seelisch Behinderten nicht. Deswegen mietete die Lebenshilfe das Objekt an der Bahnhofstraße. "Und mit dieser Trennung kam das Wohlfühlen der Betreuten", resümiert der Lebenshilfe-Chef. Die Einrichtung der neuen Werkstatt, deren Gesamtkosten bei etwa 1,3 Millionen Euro lagen, wurde mit 57000 Euro von der Aktion Mensch gefördert. "Darüber haben wir uns sehr gefreut, denn eigentlich werden Werkstätten nicht mehr gefördert", sagt Haase.
Der Bedarf für Betreuungsplätze dieser Art ist vorhanden, die Lebenshilfe rechnet in den kommenden Jahren mit steigenden Zahlen. Gefördert werden bei D+M Frauen und Männer von 18 bis 65 Jahren, ihr Durchschnittsalter liegt zwischen 35 und 38 Jahren.
Nicht immer klappt es beim ersten Aufnahmeversuch. "Wir hatten welche, die haben zwei, drei Anläufe gebraucht, um sich hier einzugliedern. Aber die meisten, die kommen, wollen und können wirklich arbeiten", erzählt Sarah Maaß. Durch die Arbeit bekommen sie wieder eine Tagesstruktur und haben Pflichten - ein Alltag mit Aufgaben. Andere ziehen sich wieder zurück. Wohin? "In ihre Individualität, in ihre Krankheit und in Hartz IV", so Hans-Peter Haase.
Montierer Andreas Spingies hat für die kommenden Wochen Pläne, denn er ist Hobby-DJ. Und wenn alles klappt, wird er im Februar das erste Mal für seine Arbeitskollegen im Rahmen der Faschingsfeier Musik auflegen: "Ich habe schon gefragt, was sie hören wollen. Die Älteren lieber Schlager, andere AC/DC". Der 24-Jährige hat genug Musikmaterial und freut sich schon. Er selbst hört am liebsten Techno - vielleicht kann er davon ja auch ein Stück beim Fest spielen.