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98-jährige jüdische Zeitzeugin Mit Video: Sie hat Auschwitz überlebt - Batsheva Dagan zu Gast in Gardelegen

In der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen beantwortet sie Fragen von Schülern. Manche ihrer Erinnerungen ist nur schwer zu ertragen.

Von Gesine Biermann 18.09.2023, 15:18
Batsheva Dagan ist 98 Jahre alt und hat den Holocoust und  Auschwitz überlebt. In Gardelegen spricht sie in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe mit Jugendlichen. Hier erzählt sie Josuel Rakow über Freundschaften im Konzentrationslager.
Batsheva Dagan ist 98 Jahre alt und hat den Holocoust und Auschwitz überlebt. In Gardelegen spricht sie in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe mit Jugendlichen. Hier erzählt sie Josuel Rakow über Freundschaften im Konzentrationslager. Foto: Gesine Biermann

Gardelegen - Längere Wege kann sie nur noch im Rollstuhl schaffen. Immerhin ist sie schon fast 100 Jahre alt. Vor wenigen Tagen ist Batsheva Dagan aus Israel nach Deutschland gekommen. Auch in Gardelegen will sie mit Jugendlichen sprechen. Ganz sicher ist das anstrengend. „Aber sie will das selbst“, versichert Cornelia Habisch, stellvertretende Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung, die sie dabei begleitet.

 
Batsheva Dagan zu Besuch in Gardelegen. (Kamera: Gesine Biermann)

Mit ein bisschen Hilfe steigt die 98-Jährige dann auch selbst auf die Bühne, die im Konferenzraum extra für sie aufgebaut ist. Damit alle sie sehen können, denn sie ist zierlich und klein. Vom Stuhl, auf dem sie sitzt, reichen ihre Füße nicht ganz hinunter. Aber als das Mikrofon für sie eingestellt wird, fahren alle ein bisschen zusammen, als sie „Shalom!!“ sagt. Ihr wacher Blick lässt niemanden los. Aufmerksam und forschend schaut die zierliche kleine Frau – die übrigens acht Sprachen spricht – direkt hinein ins Publikum. In die Augen der jungen Leute in den Reihen vor ihr.

Eure Wahl muss anders sein.

Die sind in etwa so alt wie sie selbst, als sie 1943 ins Konzentrationslager nach Auschwitz deportiert wird. Was sie dort erlebt hat, liegt indes komplett außerhalb dessen, was heute den Alltag der Elftklässler ausmacht, die ihr gegenübersitzen. Mucksmäuschenstill hören sie ihr zu, als sie von der Lagerzeit erzählt. Vom Abscheren der Haare. „... und ich hatte solche schönen langen Haare wie einige von euch“, sagt sie und schaut die Mädchen an. Oder von der Krätze, einer Krankheit, von der sie zuvor noch nie etwas gehört hatte, vom Drang, dem Juckreiz nachzugeben, was aber Spuren an der Haut hinterließ, die wiederum direkt ins Gas führen konnten. „Überall am Körper hatte ich solche Male“, sagt Batsheva Dagan. „Nur mein Gesicht war sauber. Das Gesicht eines jungen Mädchens.“ Das habe sie mindestens einmal davor bewahrt, bei der Selektion als Todeskandidatin ausgewählt zu werden.

Dagan erzählt von ihrer Begegnung mit der berühmt-berüchtigten Aufseherin Irma Grese, der „Hyäne von Auschwitz“: „Eine so hübsche junge Frau, die ihren Hund auf uns gehetzt hat“... Sie beschreibt, den unfassbaren Wert von Brotkrümeln: „Sie waren das Leben“, aber auch ihre große Sehnsucht zu lernen, „den Kopf mit guten Gedanken zu füllen, anstatt immer nur mit Angst.“

Vor allem aber ermutigt die fast 100-jährige Zeitzeugin die jungen Leute, Fragen zu stellen. „Fragt heute“ ist schließlich nicht nur das Motto dieser Veranstaltung. Auch ein Gedicht von ihr heißt so: „Fragt heute, denn heute gibt es noch Zeugen. Morgen wird es nur Literatur sein. Oder Auslegung...“, heißt es darin.

Josuel Rakow ist schließlich der Erste, der sich neben sie setzt. Er will wissen, was aus ihrer Familie wurde und, ob es auch Freundschaften gab, damals in Auschwitz. Gelegenheit für Batsheva Dagan, über ihre „acht Mädels“ zu berichten, mit denen sie zusammen eine Pritsche teilte. Das tut sie indes ganz ohne Verklärung: „Auch in der Hölle hatten wir die Wahl, gut zu sein oder schlecht, zu teilen oder nicht.“

Was sie den Jugendlichen nach etlichen weiteren beantworteten Fragen mit auf den Weg gibt, lässt viele noch einmal sehr nachdenklich werden. „Ihr müsst wissen, was die vorigen Generationen gewählt haben“, sagt Batsheva Dagan und: „Eure Wahl muss anders sein, denn ihr seid die Gegenwart und die Zukunft.“ Das und die Gedichte der Zeitzeugin, von denen einige schon in Auschwitz in ihrem Kopf entstanden, wie Cornelia Habisch eingangs betonte, und die von Alina Gladow vorgetragen wurden, klangen sicher noch lange in den Köpfen der Besucher nach.

Von den Elftklässlern gibt es am Ende stehenden Applaus, von den drei Musikern, die die Veranstaltung unter anderem mit jiddischer Musik begleiten - Stephan Wapenhans (Gesang), François Régis (Piano und Komposition) sowie Magdalena Schnaithmann (Violine) - ein Stück, dass sie extra für Batsheva Dagan komponiert haben. Eine Melodie zum Gedicht „An die, die zögern zu fragen“.