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Mauerfall Als die Menschen aufstanden

Ein ökumenischer Gottesdienst hat in Genthin an die friedliche Revolution 1989 erinnert.

Von Mike Fleske 25.10.2019, 01:01

Genthin l Die friedliche Revolution im Herbst 1989 ist auch 30 Jahre später ein Teil der kollektiven Erinnerung und ein Teil in den Lebensläufen vieler Genthiner. Denn auch hier hat sich die Wende wie in allen Teilen der damaligen DDR vollzogen. Während eines ökumenischen Gottesdienstes in der St. Marienkirche erinnerten sich rund 170 Menschen, unter ihnen Zeitzeugen wie auch sehr junge Menschen, an den Herbst 1989.

Am 25. Oktober 1989 markierte ein Gottesdienst in der katholischen Kirche den Beginn der Wende in Genthin. „Anzeigen in der Zeitung, öffentliche Plakate gab es nicht, nur die Mundpropaganda“, erinnerte sich die Sanitätsrätin Annemarie Büttner. Mit einem ganz kleinen Kreis von Menschen habe sie diesen Gottesdienst damals vorbereitet. Unter der Hand verabredeten sich die Menschen. Am Ende waren es 800, die in und vor der Kirche dabei waren.

Mit Lautsprechern wurde der Gottesdienst nach draußen übertragen. Vorbereitete Fürbittengebete blieben ungenutzt, da unzählige Menschen ihre Fürbitten zu Freiheit und Frieden vortragen wollten. Es war der Beginn der friedlichen Revolution in Genthin. Eine Woche später waren es 3000 Menschen, die in der Trinitatiskirche zusammenkamen und Pressefreiheit, Reisefreiheit sowie Glaubensfreiheit forderten. Anschließend zogen sie mit Kerzen durch die Stadt und legten einige Lichter vor dem Rathaus, vor der SED-Kreisleitung und vor der Stasi-Dienststelle ab.

Der damalige katholische Pfarrer Willi Kraning machte seine Gedanken zu 30 Jahren Wende an vier Punkten fest. Allen voran stellte er das Glück, das die Geschichte diese friedliche Wendung genommen hat.

Es erscheine ihm wie ein Wunder, dass sich die Menschen damals gegen die staatlichen Instanzen gewendet haben. Pfarrer Kraning ging auch auf die wiederaufgeflammte Diskussion zum Begriff „Unrechtsstaat“ ein. Man sei damals aufgestanden, weil man seine Meinung sagen wollte, ohne sich vor der Kaderleitung verantworten zu müssen, weil man ins westliche und nicht nur ins sozialistische Ausland reisen wollte und dies wurde verhindert. „All das war ein Unrechtsstaat“, befand Kraning. Damit setzte er eine Aussage fort, die vor fünf Jahren ähnlich auch vom damaligen Bürgermeister Thomas Barz geäußert wurde.

Kraning wies auch darauf hin, dass es noch viel zu tun gäbe, etwa beim Streben nach einem einigen Europa oder bei der Integration von Flüchtlingen in Deutschland und doch mahnte er, auch die Erfolge zu erkennen: „Wir müssen sagen, es ist viel gelungen, dass wir nicht hergeben wollen.“

Thomas Begrich, Mitbegründer des Neuen Forums in Genthin und damaliger Verwaltungsleiter des Johanniter-Krankenhauses, organisierte am 4. November eine Demonstration auf dem Genthiner Thälmannplatz, dem heutigen Marktplatz, zu der 2000 Menschen kamen. Die Demonstrationen wurden bis Januar 1990 in Genthin fortgesetzt.

Dann sei es vorbei gewesen und man habe das Gefühl gehabt, dass die SED-PDS ihren Alleinvertretungsanspruch endgültig verloren hätte. Begrich erinnerte an den Mut der Menschen, die einst aufgestanden waren, um für ihre Rechte einzustehen und zu kämpfen. „Wer heute davon spricht, das die Ostdeutschen die Verlierer der Einheit sind, irrt, wir haben die Einheit herbeigeführt und sind die Gewinner.“

Begrich verwies auf die Forderungen der Menschen im Herbst 1989 nach offener Rede, Reisefreiheit, freie Entfaltung im Berufsleben und einem Ende der ideologischen Erziehung. „All das haben wir erreicht.“

Im Gottesdienst erklangen Lieder, die einst auch während des Herbstes 1989 gesungen wurden, etwa „Freude, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt“ oder „Mit meinem Gott überspring ich Mauern.“

Der Gottesdienst wurde gemeinsam vom katholischen Pfarrer Stephan Donath, der evangelischen Superintendentin Ute Mertens und Mitgliedern beider Kirchengemeinden gestaltet. Den Abschluss bildetet eine Lichterprozession zum Marktplatz.

Die Menschen erinnerten mit ihren Kerzen an die Umzüge zwischen den Kirchen im Herbst 1989. Auf dem Marktplatz richtete Bürgermeister Matthias Günther einige Worte an die Anwesenden. Er beschrieb, wie er als damaliger NVA-Soldat in Gefechtsbereitschaft gesetzt wurde und wie fragil die friedliche Situation zwischenzeitlich war. Mit Blick auf ein historisches Transparent, das die Bürgerversammlung „Neues Forum“ und den Zivildienst in der DDR forderte, erläuterte Pfarrer Kraning: Wir hatten das Neue Forum in Genthin bereits acht Tage vor der Stadt Berlin. Auch mit dem Zivildienst ging es in Genthin schneller als woanders. Nach zähen nächtlichen Verhandlungen durften fünf junge Männer am 1. November 1989 ihren Zivildienst antreten, da man ihnen eilig Stellen, unter anderem im Krankenhaus, besorgt hatte.

Mit der Begleitung des Bläserchores erklang „We shall overcome“, ein Lied, das 1989 bei den Gottesdiensten immer wieder gesungen wurde und das für die Zeitzeugen eine große Bedeutung hat – bis heute.