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Diskotheken Das Vergnügen der Anderen

Als Diskothekenbetreiberinnen prägen zwei Frauen das Nachtleben Halberstadts. Eine hat aufgegeben, die andere kämpft weiter.

Von Susann Gebbert 01.04.2018, 04:00

Halberstadt l Freitagabend. Sieben Treppenstufen trennen Susi von ihrem Baby. Ihr Schlüssel dreht sich im Türschloss. Klack, klack. Stille. Sie steht zwischen holzvertäfelten Wänden, Barhockern, Sofas, Schwarzweiß-Fotos in schweren Rahmen und schlanken Flaschen voll Alkohol. Ihr Baby. Die blonden, kurzen Haare geföhnt, die Lippen rot. It’s showtime. Währenddessen treffen sich zehn Jugendliche 20 Kilometer entfernt an einem Denkmal am Waldrand in Wernigerode. Schals und Mäntel wärmen von außen, Bier, Tequila und Saure Kirsche von innen. Udo Jürgens singt aus einem Lautsprecher „Aber bitte mit Sahne“ in die Dunkelheit.

Susanne, genannt Susi, Kruses (55) Baby ist der Spucknapf, die einzige Disco in Halberstadt. „Musikkneipe“, sagt sie dazu und – „Familie“. Der kleine Eckladen mit den zwei großen Schaufenstern ist eine Institution in Halberstadt. Es ist die letzte Disko im Ort mit einer jahrzehntelangen Geschichte. Und überhaupt: Gab es laut Statistischem Landesamt 1994 noch 69 Diskotheken und Tanzlokale in Sachsen-Anhalt, waren es gut 20 Jahre später nur noch 35.

Die Halberstädter Eckkneipe schreibt Geschichte – und die Geschichte gab ihr immer neue Namen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es „Café Röckchen hoch“. Zu DDR-Zeiten war es zunächst eine Gaststätte, bevor aus ihr die „Yvi“ wurde. Die Yvetta, eine von drei Diskotheken in Halberstadt. Dazu gab es noch mehrere Jugendclubs, in denen auch getanzt wurde. Die Yvetta war fast jeden Abend geöffnet. Als die Mauer, die Deutschland teilte, nicht mehr als ein Relikt war, öffnete 1992 der Spucknapf. Der Name eine Wende. Von der schönen, vom tschechischen Sänger Jiří Korn besungenen Yvetta, zum Spucknapf – einfach auf die Sorgen spucken. Sechs Jahre später stieg Susi ein, als Kellnerin. Auch ihr Name steht für Umbrüche. Erst Friseurin, dann Schneiderin, dann Gewerkschaft, Tante-Emma-Laden und schließlich Bardame im Spucknapf.

Nacht zum Sonntag. Klopfernacht im Spucknapf. Ein Klopfer, zwei Euro, fünf Klopfer, fünf Euro. Fläschchen zwischen die Schneidezähne, Kopf in den Nacken. Läuft. Die Tanzfläche ist locker gefüllt. Etwa 40 Gäste hat die Kneipe noch. Platz hätten 175.

Nur ein paar hundert Meter vom Spucknapf entfernt lag einst der Auerhahn. Tina Schumann (60) hat nach 35 Jahren hinter der Theke 2014 kapituliert. Ihre Diskothek ist heute ein griechisches Restaurant und sie nicht mehr Königin der Nacht, sondern Angestellte in einem Kosmetiksalon. „Ich hatte einfach keine Lust mehr, immer zur Tür zu gucken, ob jemand kommt oder der Laden leer bleibt“, sagt sie. Es ist ein Kampf gegen die Zeit. Eine Disko muss schnell voll aussehen, sonst bleibt sie leer. Soziale Netzwerke und Smartphone-Chats richten darüber, ob der Abend rote oder schwarze Zahlen schreibt. „Brauchst nicht kommen. Nix los.“

Zusammen mit ihrem Mann kaufte Tina Schumann nach der Wende den „Auerhahn“. Legten sie in den 1990er Jahren noch jedes Wochenende den Schalter der Diskokugel um, war es nach Anbruch des neuen Jahrhunderts nur noch einmal im Monat. Am Ende rückten die Kosten den Einnahmen immer näher.

„Die Getränke-Rabatt-Aktionen machen viel kaputt“, sagt Tina Schumann. Ihre roten Haare fallen ihr bis weit über die Schulter, vorbei an den schwarz umrandeten Augen und dem rot geschminkten Mund. „Man zieht sich damit ein Publikum heran, das das Geschäft auf Dauer schädigt.“ Und meint damit ein Publikum, das seinen Alkohol lieber im Supermarkt kauft, wenn’s in der Kneipe zu teuer ist. Mehr Rausch für weniger Geld. Kam das Publikum doch, dann oft schlecht gelaunt oder mit Jogginghose. „Ich konnte das Genörgele der Leute über den DJ, die Preise, wie voll oder leer meine Disko ist und über das Leben überhaupt nicht mehr hören.“ Sie vermisste die Achtung der Gäste vor ihrer Arbeit. Davor, dass sie sich die Nacht um die Ohren schlug, damit ihre Gäste sich vergnügen können. Und dann taten sie es nicht einmal.

Marvin, Anne und Julia aus Wernigerode können an einer Hand abzählen, wie oft sie in einer Disko waren. Die drei 18-Jährigen treffen sich lieber bei irgendeinem Freund zuhause oder draußen irgendwo. Sie trinken Alkohol, hören Schlager, bestellen Pizza, quatschen, spielen. Manchmal bis Mitternacht, manchmal bis 1 Uhr. „Nach einer anstrengenden Woche, haben wir oft einfach keine Lust mehr, in die Disko zu gehen“, sagt Marvin. Es gibt Tage, an denen sie bis zum Sendebeginn des Sandmännchens in der Schule sind. Außerdem ist der Aufwand geringer. Keiner muss fahren oder auf den Zug warten, der erst wieder um 4 Uhr fährt, alle haben Spaß, können trinken. Anne sagt: „Hätten wir weniger Stress, würden wir vielleicht mehr weggehen.“

Tina Schumann sagt: „Die Jungen können heutzutage überhaupt nichts mehr ab“. Susi sagt: „Sie können nicht mehr feiern.“ Wenn beiden Kneiperinnen darüber nachdenken, warum es Diskotheken so schwer haben, läuft es meist auf einen Vor-der-Wende-nach-der-Wende-Vergleich hinaus. DDR: Party 19 bis 0 Uhr. Heute: Party bis 23 bis 6 Uhr. DDR: Cola-Korn für 1,60 Mark, dank Planwirtschaft überall. Heute: Cola-Korn für drei Euro aufwärts. DDR: Fast alle hatten Arbeit und etwa das gleiche Geld in der Hosentasche. Heute: Viele sind arbeitslos, einige nehmen Drogen, andere starren auf ihre Smartphones. DDR: gut gelaunt und schick gemacht. Heute: aggressiv und Jogginghose. Ohne Frage, es sind Zuspitzungen. Beispiele, die die Masse an Feiernden unerwähnt lassen. Aber doch hat sich vieles verändert.

Jens Borowski legte zu DDR-Zeiten in den Halberstädter Diskotheken auf. Es galt das ungeschriebene Gesetz: Wenn die Disko geöffnet ist, ist sie auch voll. Der ehemalige Discjockey erinnert sich an die Leute, die sich ab 18 Uhr vor den Diskotheken aneinander reihten, um pünktlich 19 Uhr drinnen zu sein. „Ab dem zweiten Titel hat der Saal gebrannt, und alle haben getanzt“, sagt Jens Borowski. Außerdem musste zu Honeckers Zeiten niemand weiter als fünf Kilometer bis zur nächsten Disko fahren – oder radeln. Das konnten auch Minderjährige. So war es üblich, dass Jugendliche ab 14 Jahren am Wochenende tanzen gingen. Abende, die den Gesprächsstoff für die nächste Woche schrieben – bis zur nächsten Disko. „Das Bedürfnis der Jugend nach Geselligkeit, Tanz und Unterhaltung (…) sind zu fördern und immer besser zu befriedigen.“ Paragraph 30 des Jugendgesetzes der DDR. Heute gibt es nur noch ein Jugendschutzgesetz. Laut dem dürfen Minderjährige offiziell nur mit einer Aufsichtsperson über 18 Jahren in einen Nachtclub. Eltern müssen dafür unterschreiben. Es gibt aber auch Diskos, wie den Spucknapf, die nur Ü-18-Jährige reinlassen.

„Nach der Wende sind die sozialen Schichten entstanden: Unter-, Mittel- und Oberschicht. Das schuf Neid und schlechte Laune“, sagt Susi. Gift für eine fröhliche Party. Außerdem kamen mit dem Fall der Mauer Großraumdiskotheken nach Halberstadt. Auerhahn, Spucknapf und Muhme mussten sich plötzlich die gleiche Anzahl an Leuten mit immer mehr Diskos teilen. Auch die Lokale im Westen waren auf einmal nicht mehr unerreichbar.

Tina Schumann findet, dass Deutschland ein Öffnungszeitenproblem hat. Studenten sitzen bis abends in Vorlesungen, Verkäuferinnen stehen bis 22 Uhr hinter der Ladentheke. „Wer geht dann noch feiern?“, fragt sie. In den 1980er Jahren hat sie den Auerhahn wochentags 18 Uhr aufgeschlossen und 22 Uhr wieder zu. Die Leute sind gleich nach der Arbeit gekommen oder vom Auerhahn aus zur Spätschicht gefahren. Am Wochenende ging’s dann auch mal bis 1, 2 Uhr. Sperrzeit sei Dank, blieb am nächsten Tag genug Energie für den „Alltag, für die Familie, zum Kuscheln.“

Wenn Marvin, Anne und Julia ihre Privatfeier beenden, geht es in den Diskos erst los. „Es funktioniert rein rechnerisch schon nicht, wenn die Leute erst so spät kommen“, sagt Tina Schumann. Ihr Personal stand bis kurz vor Mitternacht rum. Wenn die Gäste dann kamen, waren sie schon angetrunken vom Sekt aus dem Supermarkt und mit ihnen kam das nächste Problem: Lärmbelästigung. Die Nachbarn beschwerten sich, da die Bässe der Musik und die heiseren Stimmen im Morgengrauen immer noch nicht verklungen waren.

Guten Abend, Bitte, Danke, Auf Wiedersehen – Höflichkeitsformeln auf die Susi und ihre Leute oft vergebens warten. „Stattdessen machen sie den Weg nicht frei, stellen uns ein Bein oder reißen die Einrichtung von den Wänden“, sagt Susi im Dunst ihrer Zigarette. „Das gab es früher nicht.“ Statt Instrumenten hängen im Spucknapf nur noch Platten an der Wand. Eine Diskonacht lang versuchten sie es mit Erziehung: Erst „danke“, dann Kasse. Für den Abend hat’s geklappt.

Susi unterschrieb den Pachtvertrag für den Spucknapf vor fünf Jahren. Schon da konnte sie absehen, dass er sie nicht reich machen würde. Aber sie konnte ihre Liebe in den Laden stecken. Sie renovierte ihn, strich die Wände pink, ohne an der Holzvertäfelung zu rütteln, stellte sich ein Team aus Thekenpersonal zusammen, das sie Familie nennt und weinte um ihren Laden, als einfach keine Gäste kommen wollten.

Dieses Gefühl von Familie, aufeinander aufpassen, aufmerksam und nett zueinander zu sein, will Susi auch ihren Gästen vermitteln. „Wir wissen oft nach zwei Getränken, was unsere Gäste den ganzen Abend über trinken“, sagt Susis Barchefin Fabienne Raake. Und: „Ich nehme auch Autoschlüssel weg, wenn die Leute zu betrunken sind, um zu fahren.“ Wenn sie zum Beispiel zu viel „Ingo“ getrunken haben. Eine Mischung aus Saurer Kirsche, Wodka und Cola, benannt nach einem Stammgast.

Stünde ihr Laden in Leipzig oder Berlin, er würde brummen. Da ist Susi sich sicher. Letztens waren ein paar Berliner da. Die kamen am nächsten Tag gleich wieder. Hier fehle einfach die Laufkundschaft, die Flaniermeilen. Freitags schmeißt Susi den Spucknapf alleine, sonnabends sind sie meist zu dritt. Je nach dem was in der Umgebung los ist, hat sie mal 50 Gäste, mal 150. Meist Stammgäste zwischen 18 und 50 Jahren.

Platz für über 2000 Leute hat das K36 von Enrico Olbrich. Ihn interessieren nicht die Lieblingsgetränke seiner Gäste. Er will es groß und laut. Im Dezember vergangenen Jahres eröffnete er seine Großraumdisko in Wernigerode, von der er sagt: „Ich würde es nicht noch mal machen.“ Zwei Jahre Arbeit, Geld und Nerven hat er investiert, um sich seinen 6000 Quadratmeter großen Traum zu erfüllen. „Absurde Sicherheitsanforderungen“, Proteste von Anwohnern und Sorgen um Baugenehmigungen und wie viele Gäste die Nächte bringen mögen, erschwerten das Projekt „Traum“. An einem schlechten Abend kann er seine Kosten nicht decken, an einem guten fließt das Geld wie der Wodka in die kratzigen Kehlen des Nachtvolks. Bisher ist nur eine Tanzfläche geöffnet. Bald kommen zwei weitere hinzu. Von Cocktail-Nächten, Ü-30- und Aprés-Ski-Partys allein läuft sein Laden nicht. Flohmärkte, Kinderkarnevale, Tanzkurse und Privatfeiern sollen weitere Gäste anziehen. Und was, wenn die Tausender-Marken zu groß gedacht waren? Einen Plan B hat er nicht. „Das ist mein letztes Ding.“

Zurück in Halberstadt. Tina Schumann veranstaltet im Spucknapf von Zeit zu Zeit ein Treffen für ehemalige Stammgäste ihres Auerhahns. Sie wollen die alten Zeiten für einen Abend zurückholen. „Wir feiern richtig“, sagt Tina Schumann. „Aber nur so lange, dass der nächste Tag noch funktioniert.“