Unfall-Straßenbahn Halberstädter Straßenbahn kehrt in Millimeterschritten aus der Werkstatt zurück
Das will sogar ein Straßenbahn-Fan aus Stuttgart nicht verpassen: Die erste der beiden Trams, die 2020 in Halberstadt verunfallt sind, ist aus der Werkstatt zurück.
Halberstadt - Buchstäblich millimeterweise arbeitet sich Jörg Götz vor. Rückwärtsgang rein, Lenkrad einschlagen, zurücksetzten. Erster Gang, Lenkrad in die andere Richtung, vor. Immer und immer wieder. Per Walkie-Talkie gibt ihm sein Kollege Thomas Bennarndt von der Straße aus Anweisung. Rund eine halbe Stunde dauert es, bis die Männer es geschafft haben. Der 32 Meter lange und 75 Tonnen schwere Sattelzug steht in der schmalen Zufahrt des Halberstädter Straßenbahndepots. Seine Ladung: der erste der beiden Leoliner, die im Vorjahr in einen schweren Unfall verwickelt waren.
Die Rückkehr von Bahn Nummer 5 verfolgen Schaulustige gespannt und sichtlich beeindruckt, machen Fotos und Videos. Einer ist besonders emsig dabei. René Etzel fotografiert das Eintreffen des Leoliners aus jedem Winkel. Dafür ist er extra nach Halberstadt gereist, berichtet der 54-Jährige. „Um 0.20 Uhr fuhr der Zug in Stuttgart los.“ Noch am selben Abend wolle der Baden-Württemberger den Rückweg antreten. Die Tour ist dem gelernten Kaufmann im Fotohandel bestens bekannt. Er zähle schon lange nicht mehr, wie oft er in Halberstadt war. „Vielleicht so 60 Mal“, schätzt Etzel. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt wie der Domschatz, das Gleimhaus oder die Spiegelsberge sind es nicht, die ihn in die Harzer Kreisstadt ziehen. Es sind die Straßenbahnen, verrät er. Besonderes Augenmerk hat er dabei natürlich auf die „Stuttgarter“, ein alter GT4-Zug, der früher in den Straßen seiner Heimatstadt unterwegs war, bevor das Fahrzeug in Halberstadt zum Einsatz kam.
Eine „Stuttgarter“ als Ersatz
Und kommt. Neben Bussen und der „Freiburger“, ebenfalls ein GT4-Zug, diente die „Stuttgarter“ in den vergangenen Monaten als Ersatz für die beiden Unfall-Leoliner.
Diese befanden sich derweil in der Werkstatt der Verkehrs Industrie Systeme GmbH (VIS) in Halberstadt. Eine Premiere – noch nie zuvor sind dort Straßenbahnen der HVG repariert worden. Dass VIS dieses Mal den Zuschlag für die Arbeiten erhalten hat, sei nicht der räumlichen Nähe geschuldet, erläutert HVG-Chefin Claudia Stein. Der Auftrag sei ausgeschrieben worden. Neben der Wirtschaftlichkeit des Angebots spiele auch die Meinung der Versicherung eine Rolle, wer beauftragt wird.
Seit November sind VIS-Mitarbeiter im Einsatz, um die jeweils 21 Meter langen und je 26,85?Tonnen schweren Bahnen wieder fahrtüchtig zu machen: verbogenes und verbeultes Metall glatt ziehen, Kabelsalat von zerrissenen Leitungssträngen entwirren, zerbrochene Scheiben austauschen, zerborstene Fahrerpulte rundumerneuern, ersetzen, reparieren. Unzählige Handgriffe verschiedner Gewerke.
Mit 15 Jahren haben die Trams gerade mal die Hälfte der durchschnittlichen Laufzeit von Straßenbahnen erreicht. Nach zwei Jahren Planung rollte der erste der insgesamt fünf Straßenbahnzüge vom Typ Leoliner im Oktober 2006 auf dem Halberstädter Schienennetz. Wie dem Volksstimme-Archiv zu entnehmen ist, kostete die neue Flotte damals sieben Millionen Euro.
Geschätzte Schadenhöhe: 500.000 Euro
Angesichts der Kosten und der Bauzeit für neue Bahnen lohne sich die langwierige Reparatur, sagt HVG-Chefin Claudia Stein. Sie geht davon aus, dass der Unfallschaden knapp 500.000 Euro betragen wird. Das schließe die Kosten für die Instandsetzung inklusive Transport genauso ein wie die Kosten für den Ersatzverkehr und weitere Posten.
Mit dem Ersatzverkehr ist bald Schluss. Schon ab dem heutigen Donnerstag wird die Bahn Nummer 5 wieder regulär durch Halberstadt fahren, kündigt Claudia Stein an.
Zuvor muss der Leoliner noch vom Logistik-Duo vom Transporter abgeladen werden. Dafür bauen die Männer eine provisorische Rampe aus schweren Metallteilen auf. Eine gute Gelegenheit, sich Fahrtipps von Jörg Götz zu holen. „Ruhe ist das Wichtigste“, sagt er zu dem schwierigen Manöver, den Transporter rückwärts in die Einfahrt des HVG-Depots zu lenken. „Man darf sich nicht von hupenden und drängelnden Autofahrern aus dem Konzept bringen lassen. Aber das musste ich auch erst lernen“, sagt der Eisenhüttenstädter. Seit neun Jahren mache er den Job mittlerweile.
Reparatur zweiter Bahn dauert noch an
Sobald er und sein Kollege ihre Arbeit beendet haben, sind die HVG-Mitarbeiter gefragt. „Wir müssen noch Fahrkartenautomaten und Steuerrechner einbauen“, berichtet Andreas Otto, Leiter Instandhaltung. Auch fehle noch der Sandstreuer. Dieser kommt nicht nur bei Glätte zum Einsatz, sondern auch bei Regen oder Hitze. „Wenn es sehr heiß ist, fangen die Gleise an, zu schwitzen“, erläutert Dieter Meyer, der seit 35 Jahren als Fahrzeugschlosser tätig ist. Sobald eine Probefahrt und Funktionstests erfolgreich absolviert sind, können die ersten Passagiere einsteigen.
Die Arbeiten an der zweiten, schwerer beschädigten Bahn liegen ebenfalls im Zeitplan, sagt Claudia Stein. Voraussichtlich im September kehrt der Leoliner aus der VIS-Werkstatt auf das Schienennetz zurück – ein Jahr nach dem Unfall unweit des Haltepunktes Holzmarkt. Am 22. September 2020, kurz vor 14 Uhr, sind die beiden Bahnen frontal zusammengestoßen. Zwei Frauen, 81 und 54 Jahre alt, wurden laut Polizei schwer und sechs weitere Insassen leicht verletzt. Kommentar