Heimatgeschichte Als Oma und Opa noch Milliardäre waren
Ob Lebensmittel, Benzin, Baumaterial, Energie oder Handwerker – gegenwärtig stöhnt jeder über die gestiegenen Kosten. Vor genau 100 Jahren gab es eine Hyperinflation, die alles verteuerte und gleichzeitig über Nacht das Geld entwertete: Was unsere Vorfahren davon zu erzählen hatten.
Bartensleben - Wie neulich aus den Medien zu erfahren war, hat die älteste Einwohnerin Sachsen-Anhalts im März dieses Jahres in einem Altenheim in Halle ihren 108. Geburtstag gefeiert. Da in dem Artikel aber auch stand, dass die Seniorin bereits etwas an Demenz leidet, gibt es in unserem Bundesland wohl niemanden mehr, der sich an die Hyperinflation vor genau 100 Jahren erinnern kann.
Und doch sind es die Ereignisse von 1923, die in der kollektiven Erinnerung das Wort Inflation zu einem Drohgespenst machen. Meine Generation, die 30 Jahre danach das Licht der Welt erblickte, konnte von den Großeltern noch viel darüber erfahren. Die Erzählungen bildeten eine Mischung aus Grusel und Ungläubigkeit, wenn ich von den Wäschekörben voller Geld hörte, die wenige Wochen später fast wertlos waren.
Riesenvermögen wird zu Makulatur
Aber es gab nicht nur Erzähltes. Da war auch noch Inflation „zum Anfassen“. Bei meinem Spielkameraden auf einem der größten Bauernhöfe im Ort lagen in einer Kommode Bündel von 100 Mark-Scheinen aus der Zeit des Kaiserreiches. Vor dem Ersten Weltkrieg ein Riesenvermögen, waren sie in der Mühle der Inflation als erstes zu Makulatur geworden. Aufgehoben wurden sie trotzdem in der verzweifelten Hoffnung, dass sie irgendwann wieder gültig werden könnten.
Gegen einen Westkaugummi wurde einer dieser beeindruckenden „Blauen“ mit der Germania darauf mein Eigentum. Auch meine Großmutter hatte einige Inflationsscheine mit einer Menge Nullen darauf aufgehoben, allerdings ohne auf eine erneute Gültigkeit zu hoffen.
In den Dörfern halfen Hühner, Kühe und Ziegen
In den kleinen Dörfern konnten die Menschen die schlimmsten Folgen der rasenden Geldentwertung noch recht gut abfedern. „Wie harr’n doch’n Swien un’n poar Zicken in’n Stall“, sagte meine Großmutter mütterlicherseits oft. Da drohte, wie überall in den Städten, der Hunger nicht sofort.
Großvater arbeitete auf dem Kalischacht in Beendorf und brachte den Koffer voll Lohngeld gar nicht erst nach Hause, sondern fuhr mit dem Fahrrad direkt vom Schacht nach Helmstedt, um einzukaufen. So verhinderte er den Wertverlust der Millionen und Milliarden, der von einem Tag zum anderen drohte. Allerdings ging der Kalibergbau zu dieser Zeit auch in die Krise und ließ Angst und Sorge wachsen.
Fleisch, Eier, Milch und Getreide blieben stabil wie die Goldmark
Die Großeltern Müller waren mit ihrer kleinen Landwirtschaft noch besser dran. Zwei Schweine für die eigene Speisekammer und sechs zum Tauschen, dazu einige Kühe und das obligatorische Federvieh sicherten die eigene Existenz. Fleisch, Eier, Milch und Getreide blieben stabil wie die Goldmark.
Aber es gab auch auf den Dörfern Not. Da war das Ehepaar Andreas und Erna Sch. Einer Anekdote nach hatte der 16 Jahre ältere Andreas im Jahr 1892 auf Ernas Taufe gesagt: „Mäken, ick täuwe opp dick un frie’e dick mal!“ (Mädchen, ich warte auf dich und heirate dich mal!) Er hielt Wort und 1912 wurde Hochzeit gefeiert.
Andreas wollte seiner jungen Frau ein sorgloses Leben bieten und so wurde der große Hof der ältesten Familie im Dorf verkauft, um von den Zinsen fröhlich leben zu können. Die Zeiten wollten es jedoch anders. Der Privatier Sch. zog zwei Jahre später mit 38 Jahren als abkömmlich für volle vier Jahre in den Krieg. In den Wirren danach verlor das Vermögen immer mehr an Wert, und 1923 war mit der Inflation dann alles weg. Die Familie standen vor dem Nichts.
Die alte Frau Sch. kannte ich noch, da sie von meinen Großmüttern immer zu ihren Geburtstagen eingeladen wurde und bei jedem Schlachtefest eine Kanne Wurstbrühe „mit was drin“ bekam. Noch Jahrzehnte nach der Tragödie von 1923 half man sich eben untereinander, wo man nur konnte.
Dass im Inflationsjahr die Wilderei in den umliegenden Fluren und Wäldern zunahm, war natürlich auch eine Folge der chaotischen Verhältnisse. Mancher dachte sicher, wenn der Staat nicht in der Lage sei, sein Finanzwesen in den Griff zu bekommen, muss ich mich auch nicht an seine Gesetze halten. Auch dazu wurde manche Anekdote erzählt.
Mitten in der Krise mit Stallneubau begonnen
Denke ich an solche Schicksale, kommt mir das Klagen mancher Zeitgenossen, die manchmal eine Wiederholung der Katastrophe von 1923 heraufbeschwören, sehr unangebracht vor. Sicher, geklagt, geweint und gelitten wurde damals auch, aber es gab viele Beispiele dafür, wie Menschen ihre Zukunft und ihren Lebenswillen über den Geldverlust stellten.
Meine Großeltern begannen zum Beispiel, mitten im schlimmen Inflationsjahr ein Stallgebäude zu bauen. Für ihre kleine Landwirtschaft war das ein gewaltiges Unterfangen. Fertig wurde der für damalige Verhältnisse moderne Stall erst 1925. In diesem vor 30 Jahren zum Wohnhaus umgebauten Gebäude wohnen meine Frau und ich heute. Es erinnert mich immer wieder daran, wieviel Zuversicht sich die Großeltern im Wahnsinn der Hyperinflation bewahrt hatten.
Wenn das nicht genügen sollte, ließe sich noch anführen, dass meine Eltern beide in der ersten Hälfte des Jahres 1924 geboren wurden, wie übrigens noch viele andere Kinder in unserem Ort. Gibt es ein deutlicheres Zeichen für den Lebensmut und die Hoffnung der Menschen, die gerade ihre kleinen oder großen Vermögen verloren hatten? Von armen Milliardären zu glücklichen Eltern, fast ein Happy End.